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Ein weißes Zweifamilienhaus mit geschlossenen Fensterläden, an der Klingel steht Edoardos Nachname. Nur Mut, Scarlett! Ich frage mich zum wiederholten Male, ob es wohl richtig war, hierherzukommen, als mir eine Frau die Tür öffnet. Mahagonibraune Haare, gerötete Augen und ein trauriges, ein wenig erstauntes Lächeln.

»Ja?«

»Guten Tag, ich bin Scarlett, eine der Schülerinnen vom San-Carlo-Gymnasium. Ich habe Edoardo gekannt …« Ich hatte mir eine so schöne Rede zurechtgelegt, aber jetzt, wo ich hier bin, angesichts ihres Leids, weiß ich nicht, was ich sagen soll.

»Hallo, ich bin Daniela. Ich bin … war seine Frau. Danke für den Besuch, aber … leider weiß ich auch nicht mehr als in den Zeitungen stand.« Vielleicht hält sie mich für eine von diesen Neugierigen, die ihre Nase ständig in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Ich zeige ihr den Strauß Kamelien, den ich auf dem Rückweg aus der Schule gepflückt habe. »Ihre Lieblingsblumen. Für Sie.«

Ihr Gesicht erhellt sich. »Komm rein, setz dich bitte.«

Ich folge ihr ein wenig verlegen. Innen herrscht ein drückendes Halbdunkel, durchtränkt von Tränen und Schmerz. Ein blondes Mädchen sitzt mit gequältem Gesicht auf einem Sofa. Sie steht auf, als sie mich eintreten sieht.

»Mama, ruf mich, wenn du mich brauchst, ich bin nebenan.« Sie mustert mich misstrauisch und geht.

»Entschuldigen Sie die Störung«, stammele ich.

»Er liebte Japanische Kamelien. ›Sie blühen trotz der Winterkälte und beleben die dunklen Ecken mit Farbe‹, hat mein Edoardo immer gesagt. Ich erinnere mich, dass er mit diesen Blumen mein Herz erobert hat.«

Ich lächele und tue so, als würde ich die Tränen in ihren Augen nicht bemerken.

»Man hat mir noch nicht erlaubt, ihn zu sehen.«

»Wie kann das sein?«

»An jenem Morgen hat Edoardo das Haus verlassen, um in die Schule zu gehen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Einen letzten Abschied kann man doch niemandem verwehren, aber man hat mich noch nicht einmal gebeten, die Leiche zu identifizieren. Kein Wort von den Gerichtsmedizinern oder der Polizei. Zuerst hat man mir gesagt, es handle sich um Mord, und dann hieß es, es sei ein Infarkt gewesen. Aber Edoardo ging es doch ausgezeichnet! Er hat nie am Herzen gelitten … Und wenn es so wäre, glaubst du nicht, man hätte mir erlaubt, ihn noch einmal in den Arm zu nehmen?« Sie bricht in Tränen aus.

»Es tut mir so leid«, sage ich.

»Ich habe einen Anwalt eingeschaltet, aber mit jedem Tag, der vergeht … ist es, als würde er noch einmal sterben. Und das wird so bleiben, bis ich seinen Körper wieder in meinen Armen halte.«

Ich muss jetzt stark sein und ihr Mut zusprechen, ich will nicht weinen. »Edoardo war ein außergewöhnlicher Mensch. Ich brauche nur ein Buch in die Hand zu nehmen, und schon fühle ich mich ihm nah.«

»Bücher waren schon immer sein Leben. ›Mit der Göttlichen Komödie werde ich mich nicht einmal in der Hölle langweilen‹, hat er immer im Spaß gesagt.«

Jetzt habe ich die Gewissheit: An dem Tod meines Freundes ist tatsächlich etwas seltsam. Und das hat nichts mit meiner krankhaften Einbildung zu tun. Man hat nicht einmal seiner Frau gestattet, ihn zu sehen!

Die verschrumpelte Hand, die aus dem weißen Laken hervorschaute, die Brandflecke auf dem Boden, Mikaels Warnungen. Jedes Steinchen fügt sich perfekt ein wie in ein Mosaik des Schicksals.

»Entschuldigen Sie, meine Mutter muss sich jetzt ausruhen.« Das blonde Mädchen taucht kurz im Zimmer auf. Sie hat die gleichen blauen Augen wie Edoardo, aber einen harten Blick, wie jemand, der in seinem Leben schon viel durchgemacht hat.

»Würdest du uns einen Tee kochen, Lorenza?«

»Für mich nicht, danke, ich muss jetzt gehen.«

»Du musst es ihr nachsehen«, sagt Daniela, als wir wieder allein sind. »Sie war noch nie ein einfacher Mensch … Sie ist ausgezogen, als sie noch keine achtzehn war. Edoardo hat immer an die Macht des Wortes geglaubt, aber mit unserer Tochter haben wir nie reden können. Schließlich hat er geglaubt, er hätte als Vater versagt. Er gab sich die Schuld an Lorenzas Fehlern … Wenn er bloß wüsste, dass sie jetzt hier ist! Stattdessen ist er gestorben, ohne zu wissen, dass seine Tochter ihn trotz allem geliebt hat.«

Jetzt wird mir vieles klarer. Anscheinend hat Edoardo in mir so etwas wie eine zweite Chance gesehen, eine Tochter, bei der er beweisen konnte, dass er doch ein guter Vater war.

Ich umarme Daniela herzlich. »Edoardo hat mir einmal gesagt, dass man nur stirbt, wenn einen die Liebsten vergessen. Er wird nie sterben, weil er für immer in unseren Herzen wohnt.«

»Ich danke dir für deine Worte«, sagt sie gerührt. Bevor ich gehe, schaue ich mir die Fotos an den Wänden an. Landschaftsaufnahmen, blühende Bäume, kahle Bäume. Ein winterliches Meer. Vor diesem letzten Foto bleibe ich voller Trauer stehen.

»Das habe ich gemacht. Früher war ich Fotografin. Das war das Lieblingsbild meines Mannes.«

»Es ist wunderschön. Ganz genauso fühle ich mich jetzt.«

»Du bist ein ganz besonderer Mensch, Scarlett. Ich bin sicher, dass er dich sehr gemocht hat. Komm wieder, wann immer du willst.«

Ich flüchte geradezu aus der Wohnung, vor Danielas Blick und ihren Erinnerungen, vor dem erdrückenden Gefühl des Verlusts und vor einer Tochter, die nie begriffen hat, wie sehr ihr Vater sie geliebt hat, und die ihn jetzt umarmen möchte, doch nun ist es zu spät.

Ich trete heftig in die Pedale, um meine Erinnerungen hinter mir zu lassen. Aber sie verfolgen mich. Ich sehe Edoardos Lächeln vor mir, seine Finger, die über die Rückseiten der Bücher gleiten, und ich höre, wie er durch ihre Stimme mit mir spricht.

»Ich schwöre, dass ich die Wahrheit herausfinden werde. Für dich, Edoardo …«

Erst als ich keuchend, jedoch mit trockenen Augen zu Hause ankomme, stelle ich fest, dass etwas in meinem Fahrradkorb liegt. Eine abgebrochene, eine verwundete Blüte.

Und ich bin mir sicher, dass sie vorher nicht da gewesen ist.