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Unser Italienischlehrer Herr Vanzi hasst mich. Er hat mich vom ersten Tag an abgelehnt, da ist nichts zu machen. Das habe ich sofort daran bemerkt, wie er seine werwolfartigen Augenbrauen hochgezogen hat, als er von mir verlangte, ich solle ihm mal so in groben Zügen meine Vorkenntnisse schildern. Ich habe ein bisschen herumgestottert … und dann kam überhaupt nichts mehr. Vor mir die große Leere. Ich war stumm wie ein Fisch.

Wie peinlich! Aber wenigstens benimmt sich Caterina allmählich wieder normal. Vielleicht ist sie wirklich in Umberto verliebt. »Ich werde euch niemals sagen, wer es ist! Also hört auf mich deswegen zu löchern.« Ich weiß es nicht genau, aber die Anzeichen sprechen eine deutliche Sprache. Man braucht nur »Umberto« zu sagen, und ihre Rehaugen leuchteten. Sie hat mir die Zettelchen gezeigt, die zwischen ihr und Genziana in der Chemiestunde hin- und hergegangen sind, mit den Bemerkungen zu Herrn Lanzoni. Genziana findet ihn tatsächlich toll! »Dieses Brave-Jungen-Image kauf ich ihm nicht ab«, hat sie geschrieben. »Seine Augen funkeln, und außerdem trägt er keine Armbanduhr.« Ja, und? Wenn man Genziana glauben mag, zeigt das, wie frei er ist, trotz seiner Position an der Schule. Na ja, kann sein … Aber ich hatte keinen Nerv, darüber nachzudenken, weil ich versucht habe, mich auf die Atome und die Periodentafel der Elemente zu konzentrieren. Hilfe!

Ich beiße in einen Apfel und laufe in Richtung Bibliothek. Dort möchte ich ein paar ruhige Stunden verbringen, bevor ich nach Hause gehe. Ich habe keine Lust, meiner Mutter früher als nötig zu begegnen. Heute Morgen beim Frühstück herrschte am Tisch dicke Luft. Papa war schon gegangen, und Simona hatte diesen finsteren Blick, den, der ein heftiges Donnerwetter ankündigt. Dann bleibt man am besten so lang wie möglich weg.

Manchmal glaube ich, dass Marco von uns allen am meisten unter der Situation leidet. Er ist zu klein, um selbst zu entscheiden, ob er ein paar Stunden länger fortbleibt. Zu klein, um sich die Kopfhörer aufzusetzen und sich bei voller Lautstärke einen Song von Opeth reinzuziehen, nur um die Streitereien da unten nicht mehr hören zu müssen und die nötige Ruhe zu finden, um einschlafen zu können. So wie ich es gestern Nacht getan habe.

Wenn du sechs Jahre alt bist, kannst du dich noch nicht vor der eigenen Familie schützen, die ja eigentlich dich vor der Welt schützen müsste.

So in Gedanken versunken bemerke ich die allmählich näher kommenden Stimmen hinter mir nicht, und als ein Finger mir plötzlich auf die Schulter tippt, hätte ich beinahe aufgeschrien. Als ich mich umdrehe, blicke ich in Lavinias dunkle Augen, die mich von oben herab ansehen. Neben ihr steht Sofia, die Tochter des Rektors, und etwas weiter weg Federica aus meiner Klasse. Doch die weicht meinem Blick aus und scheint sich für das, was hier geschieht, zu schämen. Aber was geschieht hier eigentlich?

»Genau dich habe ich gesucht«, sagt Lavinia. Sie trägt beige Wildlederstiefel, Ton in Ton mit den Leggings. Goldener Lidschatten auf den Augen, die Lippen glitzern in Altrosa. Perfekt gestylt.

»Was ist? Ich hab’s eilig.«

»Habt ihr gehört? Sie hat’s eilig …« Ein mehrstimmiges schrilles Gelächter. »Also, normalerweise vermeide ich es ja, mich unter Leute zu mischen, die ich nicht kenne. Jedenfalls wenn es geht. Aber wenn so eine kleine Schmeißfliege mich belästigt, bin ich gezwungen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.«

Ich ahne, dass mit dieser lästigen Schmeißfliege ich gemeint bin. Stumm und verlegen bleibe ich stehen. Sofia macht einen Schritt auf mich zu. »Wir wissen, dass du dich an die Jungs aus der Schule ranmachst. Und dass du mit einem flirtest, mit dem du das besser nicht tun solltest …« Sie spuckt die Worte förmlich aus, lässt sie zischen wie giftige Klapperschlangen. Ich suche Federicas Blick. Ganz bestimmt hat sie verraten, dass ich mich mit Umberto getroffen habe. Sie spielt verlegen mit einer ihrer Locken und weicht meinem Blick aus.

»Ich habe mit niemandem geflirtet!«

»Du solltest dich lieber nicht mit mir anlegen«, sagt Lavinia in drohendem Ton.

»Alles in Ordnung bei dir, Scarlett?«, fragt Pietro mit rotem Gesicht. Er ist größer und breiter als jede von uns, und in seinen sonst so sanften Augen scheint etwas wie Wut zu liegen, aber vielleicht ist es auch Sorge.

»Ja, alles in Ordnung.«

»Noch so ein Hündchen, das gleich angelaufen kommt, um sie zu retten«, meint Sofia mit hämischem Kichern.

Sie verziehen sich so rasch, wie sie gekommen sind. Pietro und ich wechseln stumm einen langen Blick.

»Haben sie dich belästigt?«

»Halb so schlimm. Aber ich bin froh, dass du gekommen bist!«, gebe ich zu.

Später, in der Bibliothek, suche ich mir ein paar Bücher aus, um sie nach Hause mitzunehmen, und ein Werk über Kunstgeschichte, in dem ich gleich hier stöbern will. Ich verspüre das Bedürfnis, mir etwas Schönes anzusehen.

Ich blättere und lese darin. Pietro beobachtet mich stumm. Ein seltsamer Junge. Er wirkt wie der gute Riese aus dem Märchen. Im Unterricht hängt er immer mit Lorenzo zusammen, der das genaue Gegenteil von ihm ist, denn der sieht gut aus und ist sich seiner Wirkung voll bewusst, er hat die typische Lässigkeit eines Sportlers. Wenn man die beiden beobachtet, hat man den Eindruck, dass immer bloß Lorenzo redet und Pietro ihm einfach zuhört.

»Wo ist Lorenzo?«, frage ich Pietro.

»Er ist nach Hause gegangen.«

»Und warum bist du nicht bei ihm, wie sonst?«

»Ich habe gesehen, dass Lavinia und ihre Freundinnen dir gefolgt sind, ich war halt besorgt. Stört dich das?«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Danke.« Ich hatte natürlich absolut nichts bemerkt. Wenn ich herumlaufe, neige ich dazu, mit meinem Kopf ganz woanders zu sein. Eigentlich bin ich immer mit dem Kopf ganz woanders.

»Guten Tag, Mademoiselle.« Edoardo!

»Ihnen auch einen guten Tag, äh, ich wollte sagen, dir auch.«

»Wie ich sehe, hast du dir heute einen kleinen Büchervorrat zugelegt.«

»Ja, ich konnte mich nicht zwischen Rot und Schwarz und Madame Bovary entscheiden.«

»Madame Bovary, Flauberts erster Roman. Der Autor wurde sofort nach seinem Erscheinen wegen Verletzung der öffentlichen Moral angeklagt. Und später ist das Buch ein Bestseller geworden. Das Leben geht schon seltsame Wege, nicht?«, sagt er und rückt sich dabei die Brille auf der Nase zurecht.

»Das Gleiche denke ich auch immer.«

Edoardo dreht uns den Rücken zu. Er lässt seine Finger feierlich über die Buchrücken auf dem Regal neben uns gleiten. Es wirkt, als würde er den Schwingungen nachspüren, die sie aussenden, er sieht dabei aus wie ein Zauberer, der gleich seine Formel sprechen wird. Plötzlich hält er inne und nimmt ein Buch heraus, schlägt scheinbar zufällig eine Seite auf und liest vor: »Bücher entstehen aus der Suche nach Antworten.«

Pietro sieht mich an und zuckt nur wortlos mit den Achseln. Ich wende mich wieder meinem Kunstbuch zu und blättere weiter darin.

Bücher entstehen aus der Suche nach Antworten, wiederhole ich stumm für mich. Ich hätte jetzt so dringend Antworten nötig wie noch nie in meinem Leben, aber ich weiß nicht, wo ich sie suchen soll. In dir selbst, flüstert eine innere Stimme. Aber es ist gar nicht so einfach, in sich hineinzusehen.

Ich laufe umher auf der Suche nach Antworten. Ich laufe, denn wenn ich stehen bleibe, holen meine Fragen mich ein und bedrängen mich. Da schrillt mein Handy los, mit diesem schrecklichen Klingelton, der sich wie ein uraltes Telefon anhört. Aber nur so bemerke ich es: Ich habe es schon mit den verschiedensten Melodien versucht, aber anstatt ans Handy zu gehen, habe ich nur zerstreut mitgesummt. Ich sehe aufs Display: Es ist Manuela!

»Hallo, Sternchen!«, schreit sie. Nur sie und Matteo haben mich so genannt. Sie überschüttet mich mit Klatsch über ihre ersten Tage im neuen Schuljahr, über die neue Geschichtslehrerin und ihre neue Frisur, mit der sie auch in diesem Jahr wieder einen großen Auftritt hingelegt hat, ein asymmetrischer Stufenschnitt. »Es sieht echt super aus! Und du müsstest mal die Farbe sehen, irgendwas zwischen rosa und orange, wie ein Pfirsich. Kannst du es dir vorstellen?«

Ich versuche es zwar, aber das ist einfach nicht das Gleiche, als würde sie vor mir stehen. Deshalb beschränke ich mich auf ein begeistertes »Ja«, das allerdings etwas künstlich klingt. Als ich mit Erzählen dran bin, berichte ich von Umberto und seinen schmalen Händen, von Lavinia und den Lavinia-Girls, von Caterina Rehauge, von Genziana … Ich rede ohne Punkt und Komma, ich rede, um nicht die Antwort auf die Frage hören zu müssen, die unweigerlich in meinem Kopf entsteht und mich nicht mehr loslässt.

Doch Manuela kennt mich zu gut und antwortet, ohne dass ich sie gefragt habe.

»Du fehlst uns, Scarlett. Uns allen. Die Balboni hat sogar aufgehört, Blondinen zu hassen, seit du nicht mehr da bist.«

Ich verharre in gespanntem, erwartungsvollem Schweigen.

»Du fehlst mir. Und Matteo vermisst dich wahnsinnig. Ich glaube, er hat sich in dich verliebt.«

Eine Welle von Gefühlen überschwemmt mich. Die Entfernung zwischen uns wird mir schlagartig bewusst, trifft mich wie ein Schlag in den Magen und nimmt mir den Atem.

»Ihr fehlt mir auch«, bringe ich gerade noch leise heraus. Eine heftig brennende Sonne streichelt glühend heiß meine Haut, doch sie kann die Eiseskälte in mir nicht auflösen.