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Alle in der Klasse ignorieren mich. Genziana, Caterina und Laura hören auf zu reden, sobald ich in ihre Nähe komme. Lorenzo und Pietro haben beschlossen, sich der Clique anzuschließen, und sobald es das Wetter zulässt, verbringen alle die Pause in den grünen Haaren von Großmutter Eiche. Sie lachen und machen ihre Scherze, genau wie früher. Nur ohne mich.

Sogar Livio schaut mich merkwürdig an, vielleicht hat Genziana auch ihm alles erzählt. Eigentlich scheint er ja nie mit jemandem zu reden. Manchmal treffe ich ihn während der Pause in der Bibliothek, oder er verschwindet einfach irgendwohin. Nur Anna redet weiterhin wie ein Maschinengewehr auf mich ein. Aber das zählt nicht. Sie würde mit jedem quatschen, auch mit einem Nachttischchen.

Sogar die Casarini, die Geschichtslehrerin, hat sich eingemischt, mit ihrem originellen Abfragesystem. »Wie ich sehe, hat es einige Platzwechsel gegeben«, meinte sie mit einem hinterhältigen Lächeln. »Gut, dann wollen wir mal sehen, ob die neuen Banknachbarn funktionieren. Castoldi und Bertolini, wir werden uns jetzt mal nett unterhalten.« Anna und ich haben uns verzweifelt angesehen. Letztendlich bin ich mit einem Ausreichend davongekommen. Dank Anna! Sie wusste wenig, aber dafür hat sie umso mehr geredet. Sie hat die Lehrerin einfach zugequatscht und sie damit völlig durcheinandergebracht. Verlegen und wortkarg habe ich mich hinter ihrem Wortschwall versteckt.

Schlimmer kann es ja nicht mehr kommen, habe ich mir gesagt. Doch da hätte ich mir nicht so sicher sein sollen …

»Und, hast du alles dabei?«, fragt Anna kryptisch. Keine Ahnung, was sie meint.

»Was, alles?«

»Hallo, jemand zu Hause? Heute ist Montag, jetzt haben wir Sport. Also, hast du dein Turnzeug dabei? Und was zum Duschen? Das möchte ich dir nämlich dringend raten, da du ja jetzt meine neue Banknachbarin bist und ich keinen Bock auf Schweißgeruch habe … Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, jetzt hab ich mich wiedergefunden. Das klingt gut, nicht? Ich hatte den Faden verloren, und nun hab ich mich wiedergefunden. Kapiert? Vermutlich nicht. Ach, egal, Handtuch, Shampoo, Duschgel. Das Übliche halt.« Anna überschüttet mich mit dem gewohnten Wortschwall, und ich habe tatsächlich meinen Turnbeutel zu Hause vergessen. Und was wird die Daini dazu sagen? An der Wand der Turnhalle hängt diese nette goldene Tafel, die mich immer wieder, kaum dass ich sie betrete, an die großzügige Spende von Lavinias Vater erinnert. Anna geht ein paar Schritte vor mir und tuschelt eifrig mit Natalia, Caterinas neuer Banknachbarin. Hin und wieder drehen sie sich zu mir um und starren mich an. Ich laufe schneller und atme einmal tief durch in der Hoffnung, dass mir eine vernünftige Entschuldigung für meine Sportlehrerin einfällt.

Ich treffe sie, während die anderen in die Umkleide gehen.

»Guten Tag, Frau Daini. Entschuldigen Sie, aber ich müsste Ihnen etwas sagen …«

»Was gibt’s?« Sie mustert mich mit ihrem gleichgültigen Blick. Sie hat ziemlich schmale Lippen und noch schmalere Augen, kurze Haare und einen dauergebräunten athletischen Körper. Von hinten könnte man sie glatt für einen Mann halten.

»Es tut mir sehr leid …«

»Was tut dir leid, Castoldi?«

»Ich habe meine Tasche mit den Sportsachen vergessen. Gestern hatte ich einen schwierigen Tag und …«

»Es ist ja nur Sport, wo ist da das Problem? Ist es das, was du mir sagen willst, Castoldi?«

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Seit Anfang des Schuljahres nimmst du mein Fach nicht ernst. Und das gefällt mir nicht. Ich weiß nicht, was du bislang gewohnt warst, aber Sport ist ein Fach wie jedes andere. Und wird auch genauso im Notendurchschnitt bewertet.«

»Ich weiß … Und ich verspreche Ihnen, dass es nicht mehr vorkommen wird«, sage ich und werde immer verlegener.

»Das hoffe ich für dich.« Sie wendet sich ab und beginnt, die Kegel für einen Hindernisparcours aufzustellen.

»Könnte ich vielleicht …«

»Was gibt’s denn noch, Castoldi?«

»Könnte ich in die Bibliothek zum Lernen gehen? Da ich ja ohnehin nicht mitmachen kann, könnte ich mich zumindest auf meine Biologiestunde vorbereiten.«

»Du traust dich vielleicht was! Wenn du deinen Füller nicht dabeihättest, würdest du dann etwa deinen Italienisch- oder Mathematiklehrer fragen, ob du in die Bibliothek gehen kannst, um für ein anderes Fach zu lernen, anstatt einfach trotzdem dem Unterricht zu folgen?«

»Das ist doch nicht dasselbe … Oder?« Ich weiß nicht mehr weiter.

»Castoldi, geh mir augenblicklich aus den Augen!« Sie unterschreibt den Zettel mit der Befreiung vom Unterricht und beginnt, leise vor sich hin zu brummeln. Ich mache lieber, dass ich verschwinde, ehe sie ihre Meinung ändert oder mir siebentausend Sit-ups aufbrummt.