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Ist Vincent wie du?«

»Je weniger du weißt, desto besser ist es für uns alle.«

Black schaut sich um und beschnuppert die vertrauten Gegenstände in der Abstellkammer.

Mikael ist wieder weit weg. Ich drehe ihm den Rücken zu und verlasse wortlos den Raum.

Mit gesenktem Blick laufe ich vorwärts und versuche, meine Wut herunterzuschlucken.

»Es ist nicht leicht für mich.« Mikael steht plötzlich vor mir, fast pralle ich mit ihm zusammen. »Die beiden Seiten meiner Natur, die in ewigem Widerstreit miteinander liegen, haben begonnen, einander zu bekämpfen, seit du da bist. Die menschliche möchte sich dir und all dem, was du verkörperst, hingeben …«

»Was verkörpere ich denn?«

»Die Liebe.« Seine Augen scheinen direkt in mein Herz zu sehen. Sie berühren die unaussprechlichsten Wünsche.

Ich gehe einen Schritt auf Mikael zu. Er legt mir die Hände auf die Schultern, und eine überwältigende Wärme durchdringt mich. Sein Mund nähert sich meinem, ich verliere mich in seinem Atem.

Kurz bevor sich unsere Lippen berühren, weicht er ruckartig zurück.

Er hebt lauernd den Kopf, als würde er etwas wittern, das ich nicht wahrnehmen kann. Wie ein Tier, das seinem archaischen Jagdinstinkt folgt.

»Sollten Sie nicht längst im Klassenzimmer sein, Castoldi?« Vanzis Stimme holt mich schlagartig in die Gegenwart zurück. Er steht auf dem Flur und mustert mich stirnrunzelnd.

»Ich war gerade auf dem Weg dahin«, sage ich leise.

Dabei kann ich mir den Gedanken nicht verkneifen, dass Mikael und ich uns vielleicht geküsst hätten, wenn er nicht gekommen wäre. Zum ersten Mal.

Ich folge dem Lehrer, schuldbewusst wie ein kleines Mädchen, das man mit beiden Händen im Marmeladentopf erwischt hat.

»Ich habe das verlorene Schäfchen heimgeholt.« Vanzis lapidarer Kommentar erregt allgemeine Heiterkeit. Ich beeile mich, zu meinem Platz zu kommen. Kaum habe ich mich hingesetzt, da überfällt mich Caterina schon, ohne auf den Menschenfresser zu achten, mit der schicksalhaften Frage: »Bist du jetzt etwa mit Mikael zusammen?«

Ich weiß wirklich nicht, was ich darauf antworten soll, deshalb begnüge ich mich mit einem Lächeln.

»Ich werde Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, Sie dürfen beim Antworten sitzen bleiben«, verkündet Vanzi, sobald er sein Pult erreicht hat. »Castoldi, erzählen Sie mir etwas über die wichtigsten Vertreter des Dolce stil nuovo

Ich räuspere mich. »Also … die wichtigsten Vertreter …«

Caterina reißt entsetzt die Augen auf. Oh nein! Noch ein Minus.

»… stammen alle aus der Toskana. Der bekannteste ist Dante Alighieri, aber auch Cavalcanti und Guinizelli hatten großen Einfluss, man könnte sie als Vorreiter der Bewegung bezeichnen. Ihr Adel, der mehr geistiger Art war, als dass er auf Standesprivilegien beruhte, schuf die Grundlagen für den frühen Humanismus …« Ich rede noch drei Minuten weiter, beinahe ohne Atem zu holen.

»Das genügt. Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich muss Ihnen wohl ein Plus geben.« Er gönnt mir beinahe so etwas wie ein Lächeln. Vielleicht hasst er mich ja doch nicht so sehr!

Für diesen kleinen Sieg muss ich dann allerdings büßen, als ich die Schule verlasse.

Umberto kommt auf mich zu, sein Gesicht ist angespannt, und seine Augen glühen. Ich gehe schneller, denn nach unserem Streit von Samstagnacht habe ich wirklich keine Lust mehr, mich mit ihm auseinanderzusetzen.

»Scarlett!«, ruft er mir hinterher. Ich weiß, wie hartnäckig er ist. Es wird nichts nützen, mich taub zu stellen.

Ich verwandele mich wieder in einen Chihuahua, dem man den Knochen weggenommen hat, noch so eine Nummer, die ich unglaublich gut draufhabe. »Wenn du mir jetzt zum hundertsten Mal sagen willst, ich soll Mikael vergessen, dann vergiss du es lieber!! Ich habe nicht die leiseste Absicht!«

Er zuckt nur mit den Schultern und verschwindet ohne ein weiteres Wort. Diese Runde geht an den Chihuahua Scarlett!

Ich gehe zu Mikael, der neben seinem Motorrad steht. Er reicht mir den Helm und lacht laut los, als er merkt, dass ich es auch dieses Mal nicht schaffe, ihn aus eigener Kraft zu schließen.

Vincent tut so, als wäre ich nicht da, und wendet sich an Mikael: »Wir sehen uns bei der Probe.«

Dann fährt er los und lässt mich eine Staubwolke schlucken.

Ofelia rollt auf ihrer Maschine neben uns. »Heute Nachmittag probt die Band bei mir zu Hause. Möchtest du vorbeikommen?«

»Klar, vielen Dank!« Ich habe den Satz noch nicht beendet, da ist sie schon verschwunden. Verblüfft sehe ich Mikael an: »Ich liebe dieses Mädchen! Ich fass es nicht, ich werde bei einer Probe der Dead Stones dabei sein! Ich steh ja auf den Bassisten, aber sag ihm das bloß nicht, sonst steigt es ihm noch zu Kopf.«

»Ich hab mir sagen lassen, der soll gar nicht so toll sein …«, meint Mikael grinsend.