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Die Lautsprecher verstummen unvermittelt. »Endlich sind wir da!« Vincent klingt ungeduldig. Das Auto fährt langsam an der Bar vorbei. Eine lange Schlange Jugendlicher steht vor dem Eingang und wartet darauf, eingelassen zu werden. Unter den sexy gekleideten Mädchen, blutjungen Punks und einigen ganz in schwarz gekleideten Gothics sieht man überall die Logos der Dead Stones aufblitzen. Ich erkenne auch einige Gesichter wieder, die ich schon mal in der Schule gesehen habe. Jemand zündet sich eine Zigarette an, einige Jungs lassen eine Bierflasche kreisen, allen sieht man an, wie gespannt sie sind. Meine Aufregung wächst, ich halte es fast nicht mehr aus! Hätte mir jemand vor einer Woche erzählt, dass ich zusammen mit der Band zu einem Konzert kommen würde, hätte ich das niemals geglaubt. Und jetzt bin ich hier und betrete mit ihnen den Klub durch den Hintereingang, um der Menge zu entgehen. Mikael läuft mir voran durch einen schlecht beleuchteten Gang bis zur Garderobe.

Schon beim Eintreten erkenne ich den Schlagzeuger wieder, der dort lässig mit den Füßen auf dem Tisch lümmelt, die Baseballkappe wieder verkehrt herum auf seiner wasserstoffblonden Mähne. Er zwinkert mir lächelnd zu.

»Hi, ich bin Scarlett.«

»Du kannst Dagon zu mir sagen.«

Ich folge Mikael zu einem von Glühbirnen umrahmten Spiegel, genau wie in einer Filmgarderobe.

»Du bist ungewöhnlich still«, sagt er und blickt mir so tief und eindringlich in die Augen, dass mir die Knie weich werden.

»Bist du nicht aufgeregt wegen des Konzerts?«

»Du bist ziemlich gut darin, das Thema zu wechseln.«

»Das ist tatsächlich eine meiner größten Stärken. Außerdem kann ich mich noch hervorragend schlafend stellen, und meine beste Nummer ist die mit den großen Hundeaugen.« Er nimmt eine Haarsträhne von mir zwischen die Finger und spielt damit, wobei er mir unverwandt in die Augen blickt.

»Und wie geht die?«

»Also, wenn ich die einsetze, kann mir keiner was abschlagen.«

»Los, versuch’s doch … Mal sehen, ob sie bei mir funktionieren.« Ich komme etwas näher und schaue ihn mit großen Kulleraugen von unten an wie ein verängstigter kleiner Hund.

»Verlang von mir, was du willst …«, flüstert er heiser.

Ich werde rot und sehe schnell hinunter auf meine Schuhe.

»Könnt ihr vielleicht mal Ruhe geben, oder ist das zu viel verlangt? Ich muss mich vor einem Auftritt konzentrieren.« Vincent sitzt mit nacktem Oberkörper auf einem Hocker. Mit sicheren, rhythmischen Bewegungen zupft er die Saiten seiner Gitarre. Die Tätowierungen scheinen durch die Musik zum Leben zu erwachen. Von ihm geht eine Faszination des Bösen aus, ich wüsste nicht, wie ich es sonst beschreiben sollte. Er wirft mir einen finsteren Blick zu, bevor er sich und sein Gesicht den erfahrenen Händen Ofelias überlässt, die ihm die Augen mit Kajal umrahmt.

»Hab keine Angst«, flüstert mir Mikael zu.

»Vielleicht sollte ich besser gehen … Also dann viel Glück! Und denk dran, zeig’s ihnen!«

»Wird schon schiefgehen.« Von einem Moment auf den anderen scheint er Lichtjahre entfernt zu sein. Mittlerweile sollte ich eigentlich an seine plötzlichen Stimmungsschwankungen gewöhnt sein, aber ich würde ein Vermögen dafür geben, um zu erfahren, was ihm jetzt gerade durch den Kopf geht.

»Okay, dann bis später«, murmele ich und wende mich ab. Ich spüre, wie er meine Hand ergreift und mich schwungvoll herumwirbelt. Er sagt nichts, wir sehen uns nur wortlos in die Augen. Mein Blick versinkt in seinem, das ist alles, was ich brauche.

Einen Moment lang kommt es mir so vor, als wollte er noch etwas sagen, stattdessen gibt er sanft meine Hände frei. »Bis später.«

Verwirrt finde ich mich im Gang wieder. Wie kann Mikael nur so eine Wirkung auf mich ausüben?

»Scarlett, warte auf mich.« Ofelia ruft mich, sie trägt ein schwarzes Spitzentutu zu an einigen Stellen eingerissenen Netzstrumpfhosen und an den Füßen schwere Halbschuhe mit Stulpen darüber.

Ich lächle ihr zu, glücklich, dass ich nicht allein bleiben muss.

»Ofelia! Komm zurück!« Vincent lehnt sich aus der Tür der Garderobe, die Schminke um seine wutverzerrten Augen ist verwischt.

Sie wirft ihm einen bösen Blick zu, dann wendet sie sich wieder mir zu. »Gehen wir«, sagt sie.

»Aber …«

»Mach dir keine Gedanken. Gehen wir einfach.«

Ich bin völlig verwirrt.

Bum! Vincent hat seine Faust so fest in den Türrahmen gerammt, dass im Holz der Abdruck seiner Fingerknöchel zurückbleibt. Ich fahre erschrocken zusammen. »Ich möchte nicht, dass ihr meinetwegen streitet.«

»Der kriegt sich schon wieder ein.« Ofelias Ton ist eindeutig, sie duldet keinen Widerspruch.

Wir gehen in den Veranstaltungsraum, ein rechteckiger Saal mit einer Bühne und einer langen Theke. An den Wänden stehen ein paar kleine Sofas, der Rest ist Tanzfläche. Hintergrundmusik in gemäßigter Lautstärke empfängt uns. Der Klub ist schon voll besetzt, alle warten gespannt darauf, dass das Konzert beginnt.

Gleich werde ich die Dead Stones zum zweiten Mal live erleben. Ihr erstes Konzert war unvergesslich. Wird sich dieser Eindruck jetzt, wo ich Mikael kenne, noch steigern? Ich habe Angst, von meinen eigenen Gefühlen überwältigt zu werden.

»Wollen wir was trinken?«

»Okay.«

»Eine Cola«, bestelle ich beim Barmann.

Ofelia flüstert ihm etwas ins Ohr, und wenig später stellt er uns zwei Gläser hin, ohne den Geldschein zu nehmen, den ich auf die Theke gelegt habe.

»Was hast du zu ihm gesagt?«, frage ich verwundert.

Statt einer Antwort schenkt sie mir nur ein stummes Lächeln. Ofelia ist wirklich wunderschön! Sie bewegt sich so majestätisch, weiblich und geschmeidig. Ach, hätte ich doch nur einen kleinen Teil von ihrer Ausstrahlung, damit wäre ich schon zufrieden.

Sie nippt an einem roten dickflüssigen Getränk. Was das wohl sein mag?

»Heidelbeersaft«, antwortet sie mir. Ungläubig starre ich sie an. Ich hatte sie gar nichts gefragt! Anscheinend kann auch sie meine Gedanken lesen. Oder vielleicht bin ich tatsächlich so leicht zu durchschauen.

»Dead Stones, Dead Stones, Dead Stones!« Der fordernde Sprechchor der Menge verlangt nach dem Auftritt der Band. Wie viele Leute hier sind! Wenn ich das in der Turnhalle schon für eine riesige Menschenmenge gehalten habe, was ist dann das hier? Eine ganze Flut?

Ofelia packt mich bei der Hand und zieht mich in Schlangenlinien hinter sich her durch die Menge. Mal weicht sie aus, mal schiebt sie sich in eine Lücke, und schon gleitet sie weiter. Innerhalb von einer Minute haben wir die ganze Tanzfläche überquert und einen besonderen Platz erreicht: Von dieser etwas erhöhten Stelle hat man einen perfekten Blick auf die Bühne, ohne dass man von der Masse erdrückt oder fortgerissen wird. Die Nebelmaschine sorgt für eine unheimliche Atmosphäre.

»Gleich geht’s los«, sagt meine Begleiterin. Obwohl es so laut ist, kann ich sie ganz klar verstehen. In ihrer Gesellschaft fühle ich mich wohl, im Einklang mit der Welt. Das geht mir sonst nur noch bei einem anderen Menschen so: Mikael.

Jetzt haben sich die verschiedenen Sprechchöre zu einem einzigen vereint, unermüdlich rufen die Fans nach der Band. Tausende Hände und Füße, die rhythmisch zu den Worten klatschen und stampfen: »Dead Stones, Dead Stones, Dead Stones!«

Ein wogendes Meer aus purer Energie.

Klick! Rundum ist auf einmal alles dunkel, nur die Bühne ist taghell erleuchtet, und man sieht Dagon, wie er mit den Stöcken auf die Snaredrum einschlägt.

Und da ist Vincent, mit fließenden Bewegungen gleitet er auf die Bühne, der hypnotische Tanz einer Schlange. Er schnappt sich das Mikrofon und zischt: »Schhhhh!«

Die Menge wird immer leiser, bis auch der letzte Laut verklungen ist. Stille.

In einer Nebelwolke erscheint Mikael mit seinen intensiven Eisaugen, den Bass um den Hals.

Vincent wirft das Mikro von einer Hand in die andere. »Wir sind die Dead Stones! Wir nähren uns von euren Ängsten und verwandeln sie in Musik!«

Der Bass unterlegt alles mit einem hypnotischen Beat, der sich allmählich auf der Bühne ausbreitet und schließlich die Luft mit seinen hämmernden Tönen erfüllt. Vincent lässt einen langen rauen Schrei ertönen, und dann fängt das erste Stück an. Als Mikael in den Refrain einstimmt, macht mein Herz einen Satz, und ich beginne mich im Rhythmus der Musik zu bewegen. Als würden meine Beine von allein tanzen.

Ich beobachte Ofelia. Das pulsierende Stroboskoplicht verleiht ihrer Haut wieder diesen durchscheinenden Schimmer einer Porzellanpuppe. Sie trommelt rhythmisch mit ihren langen schwarz lackierten Nägeln an ihr Glas.

Jemand rammt mich. Oh nein! Die Lavinia-Girls haben mir gerade noch gefehlt! Die ganze Clique: Lavinia voraus, die mit ihren Tüllklamotten und dem schimmernden Make-up wie eine Prinzessin aussieht, Sofia in einem superengen Minikleid, die langen schwarzen Haare zu einer komplizierten Steckfrisur getürmt und als Schlusslicht Federica, die etwas zurückhaltender wirkt.

»Da sieht man mal, dass sie hier wirklich jeden reinlassen!«, empört sich Lavinia.

Ofelia schiebt sich zwischen uns wie eine Wand. Sie sagt kein Wort, wirft den Mädels bloß einen vernichtenden Blick zu, und schon sind die drei genauso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen sind.

Ich muss sie unbedingt fragen, wie sie das hinkriegt! Ich hab ja bloß die großen Hundeaugen drauf, aber bei solchen Gelegenheiten funktionieren die nicht.

Da erkenne ich die ersten Töne von Closer, meinem Lieblingsstück.

Ich spüre, wie ich dahinschmelze, die Melodie trägt mich fort, weg von hier in eine andere Dimension. I’m closer to you, I’m closer to you than I have ever been, why don’t you see me? Warum siehst du mich nicht? Aber Mikael sieht mich in der Menschenmenge, sein Blick streichelt mich zärtlich, als gäbe es nur uns beide. Diese Augen, sie sind so hell, als wären sie ein Stück vom Himmel. Eine warme Woge überwältigt mich. Ich verliere mich in seinen Eisaugen und denke darüber nach, dass ich mich vielleicht doch nicht geirrt habe! Das erste Mal, bei diesem Konzert zum Schuljahresbeginn, hat er wirklich mich angesehen. Dieser Augenblick hat sich unauslöschlich in meine Seele eingebrannt.

Jemand packt mich am Arm. Schon wieder Lavinia? Ist sie extra zurückgekommen, um mich noch mal anzumachen? Aber es ist Umberto, sein Gesicht ist ganz verzerrt, er wirkt bestürzt.