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Kann ich vielleicht mal erfahren, was los ist?« Ich baue mich vor Genziana auf und bin wild entschlossen, den Grund für ihren plötzlichen Groll gegen mich zu erfahren. Sie geht um mich herum, schließt sich in der Toilette ein und lässt mich mit meinen Zweifeln allein.

»Ich gehe nicht von hier weg, bis du mir geantwortet hast. Und ich glaube nicht, dass du die ganze Pause dort drinnen verbringen willst«, schreie ich durch die Tür. Kurz darauf wird der Riegel zurückgeschoben, und sie baut sich vor mir auf.

»Du willst wirklich wissen, was los ist? Gut, ich sage es dir, damit du endlich aufhörst, dich als unsere Freundin auszugeben und uns ein für alle Mal in Ruhe lässt! Und dabei geht es mir vor allem um Caterina. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich nicht darunter leide, ich bin bloß enttäuscht.« Ihr Gesicht ist vor Wut verzerrt. Ich habe sie noch nie so gesehen und weiche instinktiv einen Schritt zurück, bis ich gegen das Waschbecken aus Keramik pralle.

»Ich dachte eigentlich, ich hätte dir erklärt, wie viel Caterina an Umberto liegt. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt, als wir vor dem Konzert darüber gesprochen haben. Cat würde niemals zugeben, dass sie in ihn verknallt ist und dass sie darunter leidet, wenn er dir so viel Aufmerksamkeit schenkt, aber man muss sie sich doch bloß ansehen. Sind Freundinnen nicht dafür da, zu erraten, was sich die andere wünscht, und sich solidarisch zu verhalten? Erst machst du einen auf nett, und dann erfahre ich, dass du bei ihm stehen bleibst und allein mit ihm sprichst, dich von ihm im Auto herumfahren lässt und wer weiß was noch mit ihm treibst! Offensichtlich ist es dir lieber, dass eine Freundin leidet, als dass du auf den Flirt mit einem Jungen verzichtest, der dir noch dazu herzlich egal zu sein scheint.« Ihre smaragdgrünen Augen sprühen vor Wut.

»Lass es mich doch wenigstens erklären!«, kann ich gerade noch sagen.

Sie ballt die Fäuste und dreht mir den Rücken zu, ohne mich anzuhören. Das ist nicht fair! Ich bin auf Umbertos Avancen nicht eingegangen. Ich habe sein Angebot, mich mitzunehmen, nicht angenommen, ich habe unser Rehauge nicht hintergangen. Ich schlucke meinen schwachen Moment herunter, der in Form von Tränen herausdrängt, und flüchte mich in die Bibliothek. Edoardo hat recht: Nur das Buch ist ein Freund, der dich niemals verrät. Ich nehme mir einen Bildband und setze mich an einen der Nussbaumtische. In der Bibliothek ist kein Mensch. Ich kann sogar meinen Atem hören. Auf den Seiten vor mir sind Bilder von gramgebeugten Madonnen, Engeln und Heiligen in Ekstase zu sehen. Und dann: Sünderinnen mit langen Haaren und Männer, die im Moment ihres Todes den Himmel suchen.

»Guten Tag, Mademoiselle, was für eine angenehme Überraschung.« Edoardos Stimme und der Anblick seiner gelben Fliege mit roten Tupfen bringen mich zum Lächeln.

»Hallo. Eigentlich ist es kein guter Tag«, gestehe ich ihm. Ich weiß auch nicht, warum ich ihm so leicht mein Herz ausschütten kann. Vielleicht weil ich das Gefühl habe, dass er mich versteht, ohne mich zu verurteilen.

»Probleme mit der Liebe?«

»In gewisser Weise schon.«

»Verständigungsschwierigkeiten unter Freunden oder Freundinnen?«

»Woher weißt du das bloß?«

»Das ist doch ganz typisch in deinem Alter. Entweder man leidet aus Freundschaft oder wegen der Liebe, das sind die süßesten Qualen. Wenn man älter wird, leidet man wegen weit weniger romantischer Dinge. Zum Beispiel wegen der Sorge, wie man bis Monatsende mit seinem Geld auskommt.« Er bricht in schallendes Gelächter aus, und noch ehe er seinen Satz zu Ende gesprochen hat, ist er schon bei einem Regal etwas weiter vorn und hat eine seiner Perlen der Weisheit hervorgezogen.

»Hast du jemals dieses Buch gelesen? Es wirkt wie ein Kinderbuch, aber das scheint nur so auf den ersten Blick. Der Fuchs erklärt dem Kleinen Prinzen, wie wichtig es ist, einander zu zähmen, sich so gut zu kennen, dass man für den anderen etwas ganz Besonderes wird. Das gilt für die guten Eigenschaften genauso wie für unsere Fehler, im Guten wie im Bösen.« Edoardo sieht mich über seine Brille hinweg an und begegnet meinem dankbaren Lächeln.

»Danke!« Ganz spontan springe ich auf und umarme ihn. Er bleibt wie erstarrt stehen, mit hängenden Armen, und ist nicht in der Lage, noch etwas dazu zu sagen. »Du bist ein wahrer Freund!«, sage ich noch.

Als ich ihn loslasse, richtet er sich seine Fliege. »Die Bibliothek ist riesig, viel zu viel Arbeit für eine einzige Person. Was würdest du dazu sagen, wenn du mir ab und zu am Nachmittag etwas zur Hand gehst?«

»Das wäre fantastisch!«

»Das wäre dann Teil der außerschulischen Aktivitäten und wird genauso bewertet wie Sportkurse oder die Theater-AG. Du würdest also ein paar Extrapunkte sammeln, und ich hätte eine Aushilfe.«

»Es wäre mir eine Ehre!«, sage ich und gehe in Habachtstellung.

»Was für eine Begeisterung! Mal sehen, wie viel davon noch übrig bleibt, wenn du die Regale abstauben oder unzählige Kartons beschriften musst.«

»Mehr verlange ich gar nicht.« Manchmal kommen mir Lügen ganz leicht über die Lippen. In Wirklichkeit hatte ich an die alten Handschriften gedacht, die im oberen Stockwerk aufbewahrt werden. Vielleicht kann ich ja als bibliothekarische Hilfskraft mal einen Blick hineinwerfen. Das habe ich mir von dem Augenblick an gewünscht, als ich zum ersten Mal einen Fuß hier hineingesetzt habe.

»Ach, herrje!« Es ist schon spät, und ich muss wohl die Klingel überhört haben. Wenigstens haben wir jetzt nicht Vanzi, sondern die liebenswerte Mathelehrerin. »Edoardo, kannst du mir den Kleinen Prinzen zurücklegen? Ich komme später vorbei und leihe ihn mir aus.«

»Aber sicher, Mademoiselle.«

Ich stürze in meine Klasse und erreiche sie völlig außer Atem, als die Zini gerade hineingegangen ist. Zum Glück kommt sie immer mit fünf Minuten Verspätung!

Ich flitze an meinen Platz und hole den Block mit den rosafarbenen Blättern mit Sternchenaufdruck hervor. Den habe ich im letzten Sommer im Duty-free am Heathrow Airport gekauft, aber ich benutze ihn nur selten, weil ich ihn nicht zu schnell aufbrauchen möchte. Er ist fast ein Jahr alt und immer noch so gut wie neu. Ich schreibe zwei Zettelchen, eins für Genziana und eins für Cat. Beiden schreibe ich den Satz, den Edoardo mir als seine Interpretation von dieser Stelle mit dem Fuchs und dem Kleinen Prinzen geschenkt hat. Freundschaft heißt, einander zu zähmen. Ich drücke mir die Daumen, dass es klappt.