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Der Sommer hat sich davongemacht wie ein wunderschöner Schmetterling mit bunten Flügeln. Gerade noch hatte er sich auf der Blüte meiner Erinnerungen niedergelassen, und schon ist er weitergeflattert. So, nun ist er also gekommen, der schicksalhafte erste Tag in der neuen Schule. Mein Herz klopft ununterbrochen, meine Gefühle sind gemischt. Letztes Jahr um die gleiche Zeit bin ich geradezu vor Vorfreude geplatzt, schließlich sollte ich gleich meine Klassenkameraden wiedertreffen, darunter Manuela, die den Sommer am Meer verbracht hatte und nur darauf wartete, mir ihre spannenden, manchmal auch pikanten Erlebnisse zu erzählen, und Matteo, meinen besten Freund. Oder vielleicht war er auch viel mehr als das. Dieses Jahr dagegen bin ich absolut panisch. Vor mir liegt ein kompletter Neubeginn, ich muss bei null anfangen. Ich wasche mir das Gesicht mit der flüssigen Heidelbeerseife, und aus dem Spiegel blickt mir jemand entgegen, dem man die schlaflose Nacht nur zu deutlich ansieht. Ich kneife die Augen zusammen und versuche in dem Repertoire meiner Gesichtsausdrücke einen zu finden, der Entschlossenheit demonstriert. Doch dabei kommt nur eine klägliche Grimasse heraus, also schnappe ich mir meine Bürste und striegele damit energisch meine Haare. Ich werde diesen Tag mit hocherhobenem Kopf beginnen und versuchen, meine Ängste und meine Traurigkeit zu kontrollieren, die mich ab und an zu überwältigen drohen. Cremona ist weit weg, und damit alle meine alten Lehrer, die ich schon so gut kannte, dass sie mir nicht mehr viel Angst machten. Manuela mit ihren guten Ratschlägen ist ebenfalls weit weg und Matteo mit seinen Blicken, es ist einfach alles weit weg, was ich bis heute als mein »Zuhause« betrachtet habe.

Der Umzug war anstrengend, und vor allen Dingen kam er so überraschend. In dem einen Moment denke ich noch darüber nach, wie wohl die Sommerferien werden und was in den letzten Schultagen Aufregendes passiert ist. Und im nächsten erfahre ich, dass mir ein Umzug mit all seinen Konsequenzen bevorsteht.

»Warum habt ihr mir das nicht früher gesagt? Jetzt kann ich mich nicht mal mehr von meinen Schulfreunden verabschieden … Ich gehöre auch zur Familie, falls euch das noch nicht aufgefallen ist!«

»Schatz, versuch das doch zu verstehen. Wir haben dir nichts erzählt, um dich nicht zu beunruhigen. Ich weiß doch, wie du dir alles zu Herzen nimmst, und ich wollte nicht, dass sich das auf deine schulischen Leistungen auswirkt, vor allem jetzt am Ende des Schuljahres«, meinte Arrigo, mein Vater. Wenn ich sauer auf meine Eltern bin, nenne ich sie immer beim Vornamen.

Ich habe versucht, ihnen zu erklären, warum ich auf keinen Fall Cremona verlassen kann, vor allem nicht jetzt. Dabei dachte ich in erster Linie an Matteo und diesen flüchtigen Kuss im Physiksaal wenige Stunden zuvor. Aber die Entscheidung war schon gefallen, und ich musste mich damit abfinden.

»Du kannst dich doch jeden Tag mit deinen alten Schulfreunden unterhalten, wenn du willst. Am Telefon oder übers Internet.«

Was weiß mein Vater schon übers Internet?

»Scarlett, mir ist klar, dass es für dich hart sein wird, dich in einer neuen Stadt einzuleben, aber du wirst sicher schnell neue Freunde finden«, hat er gesagt und mich mit seinen großen blauen Augen angesehen. Da spürte ich auf einmal so ein ziehendes Gefühl in der Magengegend, das ich gar nicht weiter beschreiben könnte. Ich hätte ihm zu gern gesagt, wie frustriert ich mich fühlte, aber die Worte dafür kamen mir einfach nicht über die Lippen.

Es fällt mir nie leicht zu beschreiben, was ich gerade empfinde, und genauso wenig kann ich meine Gefühle zeigen. Wut oder andere Emotionen übermannen mich einfach, und dann steigen mir die Tränen in die Augen, es genügt ein einziges Wort, und ich fange unweigerlich an zu heulen. Und weil ich nicht in Tränen ausbrechen möchte, breche ich das Gespräch lieber ab und hülle mich in trotziges Schweigen.

»Scarlett, beeil dich, sonst kommst du zu spät!«, ruft mir meine Mutter von unten zu und reißt mich aus meinen Erinnerungen. Ich stöhne laut und werfe den x-ten kritischen Blick in den Spiegel. Was stimmt denn bloß an mir nicht? Glatte blonde schulterlange Haare. Gut, die Spitzen sind ein bisschen gespalten. Manchmal sind meine Haare eben etwas empfindlich. Ich fahre mir über das Muttermal über der Oberlippe. Ein Erbe meiner englischen Großmutter.

Alles völlig normal, ich bin einfach zu normal, das ist das Problem. Vielleicht sollte ich mir die Haare färben, denn wenn ich schlecht drauf bin, kommen sie mir eher mausgrau vor als aschblond. Einfach mal ein hübsches Feuerrot wie die Tönung, mit der Manuela letztes Jahr nach den Ferien in die Schule gerauscht ist. Alle haben sie bewundert. Ich könnte mir auch einen Stufenschnitt zulegen und sie tiefschwarz färben. Dann kämen meine blauen Augen bestimmt auch besser zur Geltung: Sie sind so groß wie die meines Vaters, aber mit grauen Einsprengseln und …

Die Badezimmertür öffnet sich sperrangelweit, und Marco, mein kleiner Bruder, kommt hereingeschossen. »Machst du mal voran? Da hilft sowieso nichts mehr, du bist und bleibst hässlich!«, zieht er mich auf. Er springt einen Schritt auf mich zu, reißt mir die Bürste aus der Hand und streckt mir die Zunge heraus, dann dreht er sich um und rennt davon.

»Komm her, dann bist du dran!«, schreie ich und verfolge ihn die Treppe hinunter. Er lacht und rennt in die Küche. Bevor ich nachkomme, werde ich langsamer und überkreuze abergläubisch die Finger, ich hoffe, dass meine Mutter wenigstens heute einmal gut gelaunt ist. Das wäre allerdings ein Wunder.

»Guten Morgen«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. Marco sitzt jetzt an seinem Platz neben dem Fernseher, aber von meiner Bürste keine Spur. Sicher versteckt er sie unter dem Tisch. Ich sehe ihn betont gleichgültig von oben herab an, woraufhin er mir eine seiner Grimassen schneidet. Mein Platz ist am Fenster. Von dort kann ich die Welt da draußen und die kaum wahrnehmbaren Bewegungen eines großen, einzeln stehenden Baumes beobachten, der seine Äste wie Arme nach oben streckt, als würde er sich ergeben. Ich denke darüber nach, dass ich mich genauso fühle.

»Wie siehst du denn aus? Ich dachte, du wolltest einen guten Eindruck bei deinen neuen Schulkameraden hinterlassen und wenigstens am ersten Schultag einigermaßen passabel aussehen. Siehst du nicht, dass dieses T-Shirt total ausgeblichen ist?« Mama wirkt so gehetzt wie immer. Sie lässt mir nicht einmal die Zeit, etwas darauf zu erwidern, schon fügt sie hinzu: »Jetzt muss ich doch wirklich mal deine Anziehsachen durchsehen. Du würdest ja nie etwas wegschmeißen, genau wie deine Großmutter.« Ich muss wohl nicht extra betonen, dass sie und Oma Evelyn, die Mutter meines Vaters, sich nie so recht vertragen haben. Meine Großmutter lebt von Erinnerungen, und jeder Gegenstand verkörpert eine für sie.

»Das T-Shirt habe ich letztes Jahr an meinem ersten Schultag getragen. Ich … hatte nur gehofft, dass es mir Glück bringt, das ist alles«, murmele ich. Ich schütte mir Milch und Müsli in meine Schüssel und esse mit Appetit. »Außerdem hast du es falsch gewaschen, mit deinem Spleen, dass alles bei 60 Grad in die Maschine muss.«

»Sprich nicht mit vollem Mund!«

»Außerdem ist Vintage dieses Jahr total in.« Gleich geht sie ab …

»Mach, was du willst, Scarle-tt.« Bingo! Wenn meiner Mutter der Geduldsfaden reißt, betont sie die zwei »t« am Ende meines Namens immer wie eine Drohung: Scarle-tt. Ich kann leider nicht auf dieselbe Tour kontern: Sie heißt Simona.

Ich mag meinen Namen, obwohl ich mich erst an ihn gewöhnen musste. Scarlett hieß meine Urgroßmutter. Ich habe sie nie kennengelernt, aber Oma Evelyn sagt, dass sie mir sehr ähnlich war und dass sie so gern eine Enkelin gehabt hätte, um ihr Geschichten aus ihrem langen Leben zu erzählen, Geschichten wie aus einem Roman. Als ich auf die Welt kam, war sie gerade erst ein paar Monate tot, verloschen wie eine Kerze, die von einem Leben voller turbulenter Liebesabenteuer verzehrt wurde. Ich stelle sie mir ein wenig wie eine Gothic Lady im Ruhestand vor, stets in schwarzen Kleidern und mit den extravaganten Schleiern über dem Gesicht, die sie auf den Fotos trägt.

Selbstverständlich hat sich Simona mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, dass ich, eine hundertprozentige Italienerin, einen so exotischen Namen tragen sollte. Aber mein Vater kann sehr überzeugend sein. So wie ich ihn kenne, hat er sie bestimmt darauf aufmerksam gemacht, dass wir dann den gleichen Anfangsbuchstaben hätten. Wie auch immer, letzten Endes hat meine Mutter akzeptiert, dass ihre Erstgeborene einen Namen wie ein Hollywoodstar tragen würde.

»Und Papa?«

»Der ist schon vor einer Stunde weg.«

Seit wir nach Siena gezogen sind, macht mein Vater fast jeden Tag Überstunden und kommt gerade noch zum Schlafen nach Hause. Ich denke, so was ist wohl normal, wenn man einen neuen Job übernommen hat, zumal einen mit viel Verantwortung. Also übe ich mich in Geduld, obwohl ich eigentlich Ruhe bräuchte. Aber wenn Simona so gereizt ist und sich wegen nichts und wieder nichts aufregt, ist das gar nicht so einfach.

Die wichtigste Eigenschaft meiner Mutter ist ganz klar ihre Entschlossenheit. Die jedoch ganz schnell in Aggressivität umschlagen kann. Sie ist einen Meter sechzig groß und trägt einen Pagenkopf in ständig wechselnden Tönungen. Sie ist Friseurin mit Leib und Seele, und vor ein paar Jahren hat sie es endlich geschafft, ihren eigenen Salon aufzumachen, wobei sie ein außergewöhnliches Organisationstalent bewiesen hat. Ich kann mir schon vorstellen, dass es ihr schwergefallen ist, ihn aufzugeben! Für sie bedeutete der Umzug nach Siena, dass sie auf alles verzichten musste, was sie sich mühsam in langen Jahren aufgebaut hatte. Jetzt sind ihre Haare schokobraun, aber ich möchte wetten, dass sie in ein paar Wochen mit einer neuen Farbe nach Hause kommt, ganz bestimmt irgendetwas Auffallenderes. Meine Mutter liebt leuchtende Farben, trotz ihrer schmalen Lippen trägt sie immer einen Hauch feuerroten Lippenstift.

»Dann gehe ich mal.« Ich stehe auf und schnappe mir meinen Schulrucksack.

»Ciao«, sagt sie zerstreut.

Mein kleiner Bruder Marco springt auf und läuft zu mir, um mir einen Kuss auf die Backe zu geben, in der einen Hand den milchverschmierten Löffel und in der anderen die Bürste, die er mir stibitzt hat.

»Ciao, du kleiner Frosch«, murmele ich.

Er verzieht schmollend den Mund. »Ich hab ein bisschen Angst vor dem ersten Schultag«, meint er leise.

»Du bist doch jetzt ein großer Junge. Wird schon alles gut gehen.« Wenn er wüsste, dass ich mich mehr fürchte als er, würde er mich bestimmt nicht mehr als sein leuchtendes Vorbild ansehen.

»Und wenn es mir nicht gefällt?«, fragt er und starrt auf seine Schuhspitzen.

»Dir wird es supergut gefallen, und du wirst jede Menge neue Dinge lernen.«

»Okay«, brummt er und setzt sich wieder an den Tisch.

Ich atme einmal tief durch und gehe dann nach draußen, wo die toskanische Herbstsonne mich mit einer Kraft küsst, die ich nicht gewohnt bin.

»Wird schon alles gut gehen«, wiederhole ich leise und durchquere mit großen Schritten den Garten.