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Hast du keine Angst vor mir?«

»Wie könnte ich vor dir Angst haben?«, würde ich ihm am liebsten sagen. Doch ich bringe diese Worte nicht über die Lippen. Stattdessen drücke ich ihn fest an mich, in einer Umarmung, die niemals enden soll.

Mikael streichelt mir über die Haare, und einen Moment lang habe ich das Gefühl, vor Glück zu sterben.

Im Schatten der Ruine tauschen wir einen Blick, der ein Versprechen scheint. Aber er ist zu kurz.

Mikael wendet sich von mir ab und entfernt sich ein wenig. Er setzt sich auf einen Stein und starrt auf die wundervolle Landschaft, die sich unter uns ausbreitet. Ich schaue lieber nach oben in den Sternenhimmel. Von hier aus, fern von den Lichtern der Stadt, ist er ein wunderbarer Anblick. Ich würde Mikael gern fragen, was nicht stimmt, warum er jedes Mal, wenn er sich mir nähert, gleich darauf das Bedürfnis hat, sich zu entfernen. Aber die Gefühle sind zu stark und ich bin zu schwach, um damit umzugehen.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Das, was ich dir sagen will, ist schwer zu verstehen.«

»Du kannst es versuchen. Ich bin für dich da.«

»Die Wirklichkeit entspricht nicht dem äußeren Schein. Oder besser gesagt, es gibt nicht nur diese Wirklichkeit. Es gibt noch eine andere Welt unter der Erdoberfläche. Eine Welt, die bewohnt ist von …«, er beendet den Satz nicht. Da gibt es etwas, das er mir nicht zu sagen wagt. Vielleicht hat er Angst, mich zu verstören, nach allem, was passiert ist.

Bei einer Welt unter der Erdoberfläche muss ich sofort an das Bild denken, das man uns in der Schule von der Hölle vermittelt hat. Dante, wie er auf der Suche nach Wahrheit von einem Höllenkreis zum nächsten schreitet.

»Na ja, es ist zwar nicht genau so, aber es ist eine gute Möglichkeit, um eine Vorstellung davon zu bekommen. Vielleicht fällt es mir so leichter, dir zu erklären, wie es funktioniert.«

»Dann kannst du also wirklich meine Gedanken lesen!«

»Nicht immer. Manchmal sind sie so intensiv, dass sie mich erreichen. Aber das klappt nicht bei allen Menschen. Manche sind ganz einfach zu verstehen, andere sind sehr komplex, reich an Zwischentönen. So wie du, Scarlett.«

»Willst du mir sagen, dass es den Teufel gibt und …«

»Es gibt Dämonen, und meine Aufgabe ist es, sie daran zu hindern, den Pakt zu brechen und in diese Welt zu kommen.«

»Den Pakt?«

»Vor Urzeiten, als Schamanen und weise Priester über die Erde herrschten, wurde nach einer langen Periode voller Chaos der Pakt besiegelt. Seitdem ist es den Dämonen verboten, die Welt der Menschen zu betreten. Ihre Spuren überleben nur noch in Legenden, die seit Jahrtausenden überliefert werden.«

»Und was hast du damit zu tun?«

Er schaut mir nicht in die Augen. Scheint zu zögern.

»Ich bin ein Wächter. Durch meine Adern fließt menschliches Blut, aber auch das von Dämonen, deswegen kann ich gegen sie kämpfen. Aber das ist auch der Grund, warum ich mit aller Kraft versucht habe, mich von dir fernzuhalten. Jeden Tag aufs Neue muss ich gegen meine dunkle Seite ankämpfen, die jeden Moment die Oberhand gewinnen könnte. Ich muss ganz bewusst alles vermeiden, was meinen logischen Verstand trüben könnte. Und da stehst du in meiner persönlichen Liste an oberster Stelle. Ich habe versucht, mich gegen meine Gefühle zu wehren, Scarlett, aber ich schaffe es nicht.«

Ich komme näher, setze mich neben ihn und nehme seine Hand. Ich führe sie an meine Lippen und küsse sie.

»Ich habe keine Angst vor dir«, sage ich leise.

»Ich bin machtlos dagegen, verstehst du? Das ist mein Wesen …« Er springt auf und geht weg.

»Und deine Familie?«

»Meine Familie ist bei einem Flugzeugunglück umgekommen, als ich noch klein war.«

»Das tut mir leid.«

»Im Leben eines Wächters ist kein Platz für Glück. Ich habe eine Mission zu erfüllen, dafür bin ich geboren.«

»Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein, wie jeder andere Mensch auch.«

»Aber ich bin kein Mensch, Scarlett. Zumindest nicht ganz. Du hast gesehen, wozu ich fähig bin. Letzte Nacht wurdest du von einem sehr alten und mächtigen Dämon angegriffen. Und er wird nicht eher Ruhe geben, bis er das gefunden hat, wonach er sucht. Dieses Mal hat er auf einen Kampf verzichtet, vielleicht, weil er seine Identität nicht preisgeben wollte.«

Einen Moment lang bin ich sprachlos. Bis vor ein paar Monaten war mein Leben so einfach. Ich hatte nur die üblichen Probleme in der Schule und den Ärger in der Familie. Jetzt habe ich erfahren, dass ein Monster aus einer Art Hölle entwichen ist, meinen besten Freund getötet und dasselbe auch bei mir versucht hat.

»Edoardo …«, fast unbewusst spreche ich seinen Namen aus. Eine Träne läuft mir übers Gesicht.

»Du musst jetzt stark sein.«

»Ich will wissen, was ihm zugestoßen ist.«

»Versuche, ihn so in Erinnerung zu behalten, wie er war, als er noch lebte.«

»Nein! Sag mir, was er ihm angetan hat!«

»Der Dämon ist so von sich überzeugt, dass er nicht einmal versucht hat, seine Spuren zu verbergen, die belegen, dass er diese Welt betreten hat. Er hat mich ganz offen herausgefordert. Er hat die Seele deines Freundes ausgesaugt und ihn so zugerichtet.«

Die Sterne scheinen uns reglos aus dem dunklen Samthimmel zu beobachten. Uns beide, wie wir Seite an Seite an den im Laufe der Jahrhunderte verwitterten Steinen des verlassenen Turms lehnen.

Mikael fährt mir mit den Fingerspitzen über die Hand. Wir reden nicht mehr. Ich möchte ihm noch so viele Fragen stellen, aber ich bin schon jetzt völlig erschlagen von den Enthüllungen dieser Nacht. Mikael und ich gehören zwei unterschiedlichen Welten an …

Ich vertraue ihm, aber er traut seinem eigenen Wesen nicht.

Können wir uns je ineinander verlieren, ohne befürchten zu müssen, dass wir uns verletzen?

Ich frage mich, ob nicht vielleicht unter den vielen Sternen des Universums über uns einer dabei ist, der meinen Wunsch erhört.