36

Die Bibliothek hat zwei Eingänge. Den einen erreicht man über den Hauptflur, der auch zu den Klassenräumen führt, den anderen von außen. Der äußere Zugang ist auch außerhalb der Unterrichtszeiten geöffnet. Ich nehme immer lieber diesen Eingang, weil der Weg dahin durch eine grüne Ecke des Parks führt und weil ich so Edoardo überraschen kann. Ich trete immer auf Zehenspitzen ein, vielleicht erwische ich ihn ja dabei, wie er laut Die Göttliche Komödie rezitiert.

Doch irgendetwas ist heute merkwürdig. Das bemerke ich schon von Weitem. Menschen rennen aufgeregt hin und her. Wie Insekten, die sich in einem Spinnennetz verfangen haben. Männer in Uniform. Ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Ein Krankenwagen mit lauter Sirene braust mit hoher Geschwindigkeit heran.

Es wirkt wie eine Szene aus einem Film. Aber die Angst, die in mir hochkriecht, ist vollkommen real.

Sie steigt unvermittelt in mir hoch, Unruhe erfasst mich mit ungeahnter Heftigkeit, reißt mich fast mit sich fort. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was passiert sein könnte, beginne ich zu laufen. Als ich die Bibliothek betreten will, hindert mich ein Polizeibeamter daran. »Junge Frau, Sie können hier nicht rein.«

»Was ist passiert?«

»Verzeihung, gehen Sie bitte aus dem Weg. Wir müssen hier unsere Arbeit machen.« Zwei Männer schieben mich zur Seite. Einer trägt einen weißen Kittel und hat einen Erste-Hilfe-Koffer in der Hand.

»Hey, du da, die Blonde! Ja, genau, mit dir rede ich.« Irgendjemand versucht, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich drehe mich um. Ein dünnes Mädchen mit dem Gesicht voller Sommersprossen beobachtet das Geschehen aus der Entfernung. Sie trägt ein kurzes rotes Cape und steht neben einer großen Weide aus dem jahrhundertealten Baumbestand des Parks. Sie sieht aus wie Rotkäppchen aus dem Märchen. Es ist zwar weit und breit kein böser Wolf zu sehen, aber ich habe trotzdem Angst. Die Vorahnung von etwas Schrecklichem macht sich in mir breit, während ich zu ihr gehe.

»Weißt du, was da los ist?«, frage ich sie.

»Ja.« Sie hat ein ganz besonderes Gesicht. Blonde Haare mit einem Rotstich und ganz helle blaue Augen, wie eine junge Irin.

»Ich mache mir Sorgen, ein Freund von mir arbeitet da drin«, sage ich und zeige auf die Bibliothek.

»Dort ist ein Mann gestorben. Eine aus der Zwölften hat ihn gefunden. Der Krankenwagen ist ihretwegen gekommen, sie hat geschrien wie eine Irre.«

»Was?! Das ist völlig unmöglich …«

»Ich hatte heute Morgen keinen Bock auf Schule, daher bin ich im Park geblieben, weil ich nicht wusste, wo ich hin soll. Hier ist Platz genug, da kann man gut und gerne ein paar Stunden verbringen, ohne weiter aufzufallen. Eigentlich hätte ich eine Physikarbeit schreiben sollen … Na ja, du weißt ja, wie das ist.« Sie lächelt ein wenig.

»Entschuldige, ich möchte ja nicht unhöflich erscheinen, aber … weißt du, wer es ist? Also der, der …« Ich kann das Wort nicht wiederholen.

»Gestorben ist?« Sie spricht es für mich aus. Ich starre den roten Umhang an und das Elfengesicht, das wieder ernst geworden ist. Langsam nicke ich. »Ich habe gehört, es sei der Bibliothekar, aber ich bin mir nicht sicher.«

Mir wird schwindelig. Der Park, die Bäume, dieses Elfenmädchen, alles beginnt sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit um mich zu drehen.

»Das kann nicht sein …«

»Wenn du die Schreie gehört hättest, die vor einer halben Stunde von dort drinnen gekommen sind, würdest du mir glauben. Als würde jemand gefoltert. Aber das geht mich nichts an. Ich habe nichts gehört und nichts gesehen.« Und mit diesen Worten entfernt sie sich langsam, ein roter Fleck, der immer kleiner wird und schließlich im Grün verschwindet.

»Nein, nein … nein! Das … kann … nicht … sein …«, sage ich ständig vor mich hin.

Ich nähere mich dem Eingang, meine Gesichtszüge sind so angespannt, dass es wehtut. Niemand beachtet mich. Die Glastür geht auf, und auf einer Trage wird ein Mädchen herausgebracht, ihr Blick ist starr, und in ihrem Gesicht ist der blanke Horror zu lesen.

Mit brachialer Gewalt dränge ich mich vorwärts. »Halt!«, höre ich hinter mir. Aber da bin ich schon drin. Das Blitzlicht eines Fotografen. Die Spurensicherung? In einer Ecke weint jemand, man hört Schluchzen und leise beruhigende Worte.

»So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen«, sagt ein Beamter, sein Gesicht ist so bleich wie ein Laken.

Das ist ein Scherz. Genau, die drehen hier einen Film, und Rotkäppchen hat das für echt gehalten. Wie dumm von ihr.

Ich bewege mich wie ein Roboter zwischen unbekannten Menschen in Uniform und einem merkwürdigen Chaos. Auf dem Boden liegen überall aufgeschlagene Bücher, und mittendrin ist ein Fleck, schwarz wie verbranntes Öl.

»Junge Frau, Sie können hier nicht bleiben!« Ein Polizeibeamter packt mich am Arm und versucht, mich zum Ausgang zu schieben.

»Edoardo!«, schreie ich. Erst jetzt, als ich seinen Namen ausspreche, spüre ich, wie mir die Angst die Kehle vollends zuschnürt.

Ihm kann, ihm darf nichts Schlimmes zugestoßen sein. Nein, er wird schon irgendwo sein, mit einer Fliege in irgendeiner unsäglichen Farbe um den Hals. »Hast du das Durcheinander hier gesehen? Da will mich wohl jemand um jeden Preis auf die Palme bringen, aber dieser Jemand weiß wohl nicht, dass ich niemals wütend werde«, wird er sagen. Und ich werde ihm versprechen, ihm zu helfen. Zu zweit haben wir das im Nu geschafft, und alles wird wieder in Ordnung kommen.

Mit einer abrupten Bewegung befreie ich mich aus dem Griff des Beamten und laufe los. Mit beiden Armen dränge ich mich durch die Menge und bahne mir so meinen Weg durch die Polizisten und die Beamten der Spurensicherung.

Ein weißes Laken liegt auf dem Boden ausgebreitet. Zwei Füße schauen darunter hervor, unnatürlich verdreht. Sie wirken unentschlossen, in welche Richtung sie gehen sollen, der eine zeigt nach links, der andere nach rechts. Mit weit aufgerissenen Augen verfolge ich die vom Laken verdeckten Umrisse, bis ich den Arm erreiche, der darunter hervorsieht. Eine blutleere Hand. Irgendetwas stimmt nicht an diesem Bild. Unmöglich. Etwas, das ich nicht fassen kann. Ein Detail fällt mir ins Auge, der Ring am Finger. Das ist eindeutig Edoardos Ring mit der vergoldeten Balzana. Ein paar Meter weiter liegt eine geblümte Fliege verwaist auf dem glänzenden Marmorboden. In der Schlichtheit dieses fortgeschleuderten Gegenstandes erkenne ich die ganze Brutalität des Todes.

Es ist, als würde sich etwas von mir lösen.

Vielleicht hat sich ja meine Seele entschlossen, meinen Körper zu verlassen, um fortzufliegen, weit weg von diesem unerträglichen Anblick. Ich höre meine Schreie, als gehörten sie nicht zu mir. Ich schreie seinen Namen, den Namen meines guten Freundes, meines Vertrauten: »Edoardo!«

Ich sehe, wie ich von zwei Beamten hochgehoben und weggebracht werde, während ich um mich trete, kratze und weine. Ich möchte zu dem weißen Laken, möchte es fortziehen und feststellen, dass alles bloß ein Scherz war.

Ein Mann im weißen Kittel kommt zu mir. »Ganz ruhig, ich bringe dich von hier fort.«

Ich möchte nicht weggehen, ich möchte nur, dass Edoardo wieder aufwacht.

Und dann schreie ich noch eine Weile, bis ich schließlich völlig erschöpft bin. Meine Lider sind schwer. Meine Seele, die über der Szene schwebt, sieht, wie ein blondes Mädchen unter Weinkrämpfen ohnmächtig wird. Und dieses Mädchen bin ich.

Dunkelheit.