79

Kritisch sehe ich mir an, was aus der Bibliothek geworden ist. Die Bände sind anders angeordnet. Die cremefarbenen Holzregale, an die ich gewöhnt war, wurden durch kalte graue Metallregale ersetzt. Wenn Edoardo seine Bibliothek so radikal verändert sehen würde, wäre er sicher wütend. Er hatte seine ganz eigene Methode, die sich in langen Jahren treuer Dienste entwickelt hatte.

Ganz zu schweigen von der neuen Bibliothekarin! Eine Frau mit einer Krächzstimme, einem gestrengen Äußeren und zudem so steif, als hätte sie einen Besen verschluckt.

Der Raum ist leer bis auf sie und Livio, der mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich an einem Tisch ganz hinten sitzt. Die spiegelnden Gläser seiner Brille verwehren mir den Blick in seine Augen. Er wirkt in Gedanken verloren. So wie es aussieht, konnte er es genau wie ich nicht erwarten, dass die Bibliothek wieder geöffnet wurde.

Ich bemerke, dass die historischen Bände auf zwei mit schweren weinroten Decken geschmückten Tischen aus Nussbaumholz gestapelt wurden. Die Bibliothekarin erklärt mir, es müsse erst eine Inventarliste erstellt werden, dann würden sie im oberen Stockwerk unter Glas ausgestellt. Für die wunderschönen Bücherschränke aus dem Kloster wird wohl kein Platz mehr sein. Edoardo hatte recht: Die Sucht nach Fortschritt löscht jede Spur der Vergangenheit aus.

Mehrere Kameras überwachen misstrauisch den ganzen Raum.

Ich höre ein Telefon klingeln, und die Bibliothekarin entfernt sich, um abzunehmen. Das ist meine große Chance.

Ich möchte mir das Buch mit dem purpurroten Einband und den Goldverzierungen ausleihen. Ich werde es in einer Nacht durchlesen und dann wieder dort hinlegen, wo ich es gefunden habe; niemand wird sein Fehlen bemerken. Für mich bedeutete dieses Buch den Beginn einer Wende. Es ist ein Symbol für den Weg, der mich verändert hat. Ich bin vielleicht kein besserer Mensch geworden, aber zumindest mutiger.

Die Stimme der mürrischen Bibliothekarin dringt schwach von ihrem Platz zu mir. Sie telefoniert immer noch.

Das ist der Moment.

Ich passe auf, dass mich keiner bemerkt, bewege mich im Zickzack zwischen den Regalen. Dann verstecke ich mich hinter dem Tisch und lasse die Augen suchend über die Titel gleiten.

Hoffentlich habe ich Glück. Wenn das Buch im mittleren Stapel gelandet ist, wird es schwer sein, es zu finden, und mir bleibt sehr wenig Zeit …

Da ist es! Unter einem Stapel vergilbter Bände.

Kniend versuche ich, die anderen etwas anzuheben, und ziehe es darunter hervor. Als ich die erste Seite aufschlage, erkenne ich die Zeilen wieder, die Edoardo mir an jenem Morgen vorgelesen hat.  

»Der Weg zur Erkenntnis führt manchmal durch Schmerzen.«

Und wenige Zeilen darunter: »Aber wenn du mutig und treu deinen Weg verfolgst, wirst du kommen, wohin du willst.« Meine Augen füllen sich mit Tränen, und einen Moment lang kommt es mir so vor, als würde Edoardos Stimme durch den Raum hallen.

Ich drücke das Buch an die Brust und streiche zärtlich über meine Hosentasche, in der sich die Fliege befindet, die mir mein Freund geschenkt hat.

Oh, nein! Die Stimme der Bibliothekarin ist näher gekommen. Sie redet mit einem Jungen.

Reglos verharre ich in meinem Versteck.

Das Buch rutscht mir aus der Hand. Zum Glück fällt es auf meine Knie und macht keinen Lärm, aber dabei öffnet es sich in der Mitte.

Mein Blick fällt auf eine schwarze Seite, dicker als die anderen und mit seltsamen Symbolen bedeckt, die irgendwie esoterisch aussehen. Außer einem keltischen Kreuz, das ich schon in manchen Kirchen gesehen habe, erkenne ich nichts wieder.

Ich fahre mit den Fingern darüber und finde eine rote Lasche, die verhindert, dass ich die Seiten umblättere. Von einer unbezähmbaren Neugier getrieben hebe ich sie vorsichtig an.

Überrascht stelle ich fest, dass die zweite Hälfte dieses Buches nur das Behältnis für ein anderes, viel kleineres und dem Anschein nach viel älteres ist. Das ist unheimlich.

Das geheimnisvolle Büchlein scheint aus einem unbearbeiteten Leder zu sein. So glatt, dass es beinahe … an menschliche Haut erinnert!

Ich reiße die Augen weit auf.

Der Hohlraum, in dem das geheimnisvolle Büchlein steckte, wurde aus den Seiten des ursprünglichen Buches herausgeschnitten, von denen nur die Ränder stehen geblieben sind. Ein geniales Versteck. Von außen sieht es aus wie jeder andere Band.

Um das Buch ist ein fünfzackiger Stern gemalt, aus Gold wie all die anderen esoterischen Zeichen. Jeder Zacken ist mit einer Lasche verbunden, diesmal in Schwarz, die verhindern, dass es herausrutscht.

Warum wurde es mit einem so ausgeklügelten System versteckt?

Mein Herz schlägt plötzlich rasend schnell, und von einem wahnsinnigen Adrenalinkick getrieben gewinnt die Neugierde in mir die Oberhand.

Ich öffne ein Siegel nach dem anderen. Bei jedem öffnenden Klick verschlägt es mir den Atem. Wie lange dieses kleine, wertvolle Kunstwerk wohl schon in dem Trägerbuch verborgen liegt?

Feierlich nehme ich es heraus, und unverzüglich blendet mich ein gleißendes Licht, sodass ich gezwungen bin, die Augen zu schließen. Das Leder des Einbandes scheint sich unter meinen Fingern zu bewegen, zum Leben zu erwachen.

Ich schreie.

Entsetzt lasse ich es zu Boden fallen und krieche keuchend auf dem kalten Marmorboden ein paar Meter weiter.

Als ich die Augen wieder öffne, bemerke ich auf der anderen Seite des Tisches eine eindrucksvolle Gestalt. Sie keucht wie ein blindwütiger Stier. Die Kapuze ist hochgezogen und überschattet das Gesicht, aus dem zwei rote Raubtieraugen funkeln.

Gleich daneben liegt der regungslose Körper der Bibliothekarin. Sie scheint ohnmächtig geworden zu sein.

Ich erkenne die Silhouette des Angreifers wieder, der an jenem Abend in der Bibliothek versucht hat, mich zu töten.

Die Gestalt legt die Entfernung zwischen uns im Bruchteil einer Sekunde zurück und packt mich am Kragen meines T-Shirts.

»Fass sie nicht an!« Ofelia. Sie starrt das Ungeheuer mit finsterem Blick an.

»Niiicht! Lauf weg!«, schreie ich.

Die gesichtslose Gestalt schleudert mich zu Boden. Ich spüre keinen Schmerz: Die Angst lässt jedes andere Gefühl in mir verstummen.

Jemand wird uns retten, versuche ich mir einzureden. Es ist mitten am Tag, und die Kameras sind vierundzwanzig Stunden am Tag mit einem Überwachungszentrum verbunden.

Ich schaue hoch. Sie sind alle außer Betrieb, verbrannt. Aus ihnen quillt noch Rauch.

Ein schrecklicher Gestank verpestet die Luft. Diesmal, nachdem ich diverse Biologieexperimente hinter mir habe, erkenne ich ihn.

Schwefel.

Das Ungeheuer nähert sich Ofelia.

»Nimm das Buch!«, schreit sie.

Ich gehorche und umklammere es trotz meines Ekels. Das Leder des Umschlags scheint zu pulsieren.

»Du darfst nicht zulassen, dass …« Ofelia kann den Satz nicht beenden, da hat das Ungeheuer sie schon an der Kehle gepackt, hebt sie mühelos hoch und wirft sie wie eine Lumpenpuppe einige Meter weit durch die Luft.

Vor meinen staunenden Augen verwandelt sich Ofelias Körper noch im Flug.

Als sie auf dem Boden aufkommt, ist sie eine wunderschöne schwarze Pantherin. Sie brüllt und sieht mich an. Dann läuft sie davon.

Das Ungeheuer steht jetzt wieder mir gegenüber. Mir bleibt keine Zeit, mich über das zu wundern, was ich gesehen habe. Die Kapuze ist nach hinten gerutscht. Jetzt zeigt sich die Bestie in ihrer wahren Gestalt.

»Ich kann es nicht glauben … DU?«

Seine Hand krallt sich um meine Kehle. Dunkelheit.