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Hallo, Oma, wie geht es dir?«

»I’m fine. Also für mein Alter, meine ich damit. Erzähl mir lieber was von dir. Letzten Sonntag hast du dich so abwesend angehört … Bedrückt dich etwas? Probleme verschwinden nicht, nur weil man nicht darüber spricht.« Oma Evelyn redet in ihrem ganz persönlichen Kauderwelsch aus Italienisch und Englisch, je nachdem, was in ihren Ohren besser klingt. Wenigstens hat sie heute nicht wieder einen von ihren full-immersion-Tagen, an denen sie mich zwingt, nur Englisch mit ihr zu reden. »Think English«, sagt sie dann immer. Zurzeit kostet es mich schon genug Kraft, in meiner Muttersprache zu denken.

»Das Problem ist, dass ich eine Entscheidung getroffen habe … von der ich annahm, sie sei richtig. Aber je mehr Zeit vergeht, desto mehr frage ich mich, ob sie das tatsächlich war.« Ich halte den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt und streichele mit beiden Händen meine einäugige Giraffe.

»Wir kommen auf diese Welt wie Schauspieler, die bei der wichtigsten Szene im Stück ohne Probe ins kalte Wasser geworfen werden. Die Generalprobe ist das Leben selbst. Da ist es ganz normal, wenn man sich irrt … aber aus Fehlern lernt man.«

Mir gefällt die Vorstellung, dass ich eine Schauspielerin bin. Ich gebe die Julia, meine Haare sind zu einem langen blonden Zopf geflochten. Vom Balkon aus spreche ich in Versen zu meinem Geliebten. Und dann schlage ich ihm beim ersten Problem die Tür vor der Nase zu und sage ihm, er soll sich nicht mehr blicken lassen. Oh mein Gott, was habe ich getan!

»Ich bin zu impulsiv. Ich habe alles verdorben«, denke ich laut.

»It’s never too late. Wenn man einen Fehler wiedergutmachen will, muss man es bloß ehrlich wollen. Wenn ich nicht dreimal geheiratet hätte, dann hätte ich Giulio niemals kennengelernt … Und dann würde es auch meine geliebte Enkeltochter nicht geben. Du musst nur fest daran glauben, Scarlett. Your life is in your hands

Das stimmt. Ich habe wirklich mein Leben selbst in der Hand.

Jetzt ist Schluss mit dem Selbstmitleid! Wenn dir wirklich etwas an Mikael liegt, dann zeig es ihm. Vielleicht kann er mir ja verzeihen. Und nicht nur er … Ich habe noch gar nicht mit Ofelia gesprochen. Sie ist Mikael einfach zu ähnlich: Ihr zu begegnen tat mir weh. Deshalb habe ich mich darauf beschränkt, sie jeden Tag nur aus der Entfernung zu grüßen. Bis sie sich nicht mehr auf meinen Wegen hat blicken lassen.

»Danke, Oma. Du bist wie ein Leuchtturm für mich …«

»Ein Leuchtturm?«

»Ja. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben wie ein Sturm ist, und Himmel und Meer sind ein einziger schwarzer Fleck. Und dann kommst du …«

»Endlich ist mein biblisches Alter mal zu etwas nütze.«

»Du bist doch gar nicht so alt!«

»Ach, dafür liebe ich dich … Und was ist mit deinem Bruder?«

»Na ja, Marco und ich verbringen nicht so viel Zeit zusammen. Bei dem ganzen Schulstress, den vielen Gedanken, die mich quälen und allem …«

»Hast du mich gerufen?«

»Hier ist er schon, Oma, du weißt ja, dem entgeht nichts. Soll ich ihn dir mal geben?« Bevor ich ihm den Hörer reiche, zische ich ihm noch zu: »Spion!«

»Hallo, Oma! Scarlett ist gemein. Nie macht sie was mit mir!«

»Das stimmt gar nicht!«, versuche ich mich zu verteidigen.

»Doch, das stimmt. Du bist gemein. Und wenn ich in ihr Zimmer gehe, Oma, dann schickt sie mich immer weg.«

Ich versuche, ihm den Hörer abzunehmen. »Das ist nicht meine Schuld! Er kommt nur immer im falschen Moment.«

Doch er hat gar nicht so unrecht. In letzter Zeit verbringe ich meine Nachmittage meist allein in meinem Zimmer, nur der iPod leistet mir dabei Gesellschaft. Manchmal muss ich dann weinen. Oder ich denke daran, wie nah Mikael und ich uns gekommen waren, an den Duft seiner Haut, das Leuchten in seinen Augen.

Er fehlt mir so. Vielleicht sondere ich mich deswegen so von meiner Familie ab. Ich fahre jeden gleich an, der versucht, sich mir zu nähern.

»Hier, nimm«, sagt der Kleine und gibt mir das Telefon zurück.

»Scarlett, du bist für ihn ein Vorbild. Versuch das nicht zu vergessen.«

»Du hast recht, er hat mit meinen Problemen nichts zu tun. Und das mit Mama und Papa ist schon schlimm genug für ihn …«

»Streiten sie immer noch so oft?«

»Das ist noch milde ausgedrückt … Aber sag bitte nicht, dass ich dir das verraten habe. Jetzt muss ich aber los. Ich geb dir einen Kuss, Oma.«

»Und einen Kuss zurück, my little heart