3
Ich blicke nach unten, sodass meine Haare mein Gesicht bedecken wie ein Schild, hinter dem ich mich verstecken kann. Ich halte mich am Handlauf fest und nehme immer zwei Stufen auf einmal, mit der anderen Hand umklammere ich meinen Glücksbringer. Früher oder später werde ich mich wohl entschließen, ihn ganz nach hinten in eine Schublade zu verbannen, ich bin schließlich kein Kind mehr. Aber noch ist es nicht so weit, und heute spüre ich mehr denn je das Bedürfnis, meine Hand um die mir so vertraute Sternenkugel zu schließen. Eigentlich ist es nur ein ganz gewöhnlicher Gummiball, ein Flummi von der Sorte, die extrem hoch springen, wenn man sie kräftig auf den Boden wirft. Gewöhnlich für andere, aber nicht für mich.
»Wenn es dir schlecht geht oder wenn du traurig bist, drück diese Kugel ganz fest. Das ist dann so, als würdest du die Sterne berühren, das ist dein ganz persönlicher Himmel in Griffweite, der alles viel klarer erscheinen lässt«, hat mir Oma Evelyn an jenem längst vergangenen Tag gesagt, als sie sie mir feierlich überreichte. Damals muss ich sechs Jahre alt gewesen sein, nicht viel älter, meine verstrubbelten blonden Haare verfilzten sich in den Spitzen, und ich blickte mit zwei riesigen Augen neugierig auf die Welt. Mein Monat Ferien in London ging zu Ende, und es war der Moment gekommen, in dem ich Abschied nehmen musste von Oma Evelyn, von ihrem leckeren Schokoladenkuchen und ihren wunderbaren Gutenachtgeschichten. Ich habe diese durchscheinende Kugel gegen das Licht gehalten und die bunten Sterne betrachtet, die immer neue Muster bildeten, je nachdem, in welchem Winkel man sie hielt. Dann habe ich gelächelt, und plötzlich schien der Abschied mir nicht mehr so schlimm. Seit dem Moment sind meine Glücksbringerkugel und ich unzertrennlich.
Auf dem Flur biege ich links um die Ecke, wie es in dem kleinen Plan eingezeichnet war. Vergeblich versuche ich die Angst zu ignorieren, meine ständige und lästige Begleiterin.
»Pass doch auf, wo du hinläufst!«, schreit eine schrille Stimme. Jemand rammt meine Schulter, kreischendes Gelächter ertönt um mich herum, und Sally, meine Sternenkugel, fliegt mir aus der Hand. Sofort greift jemand nach ihr, und ich schaue auf.
»Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders«, sage ich automatisch. Vor mir steht ein Mädchen, das geradewegs dem Cover eines Hochglanzmagazins entstiegen sein könnte. Sie ist ungefähr zehn Zentimeter größer als ich. Hautenge Jeans und eine weiße Bluse, an der die obersten beiden Knöpfe ganz bewusst offen gelassen wurden, bringen ihre Figur eines Pin-up-Girls noch besser zur Geltung. Sie hat lange platinblonde Haare, und ihre Lippen glänzen purpurrot. Ihr strahlendes Lächeln enthüllt blendend weiße Zähne.
»Du solltest besser aufpassen, wo du hintrittst.«
»Ich habe mich doch schon bei dir entschuldigt. Könnte ich meine …«, ich verstumme. ›Meine Sternenkugel‹ zu sagen kommt mir reichlich kindisch vor, und zuzugeben, dass ich einen Glücksbringer mit mir herumtrage, ist sicher mindestens ebenso uncool. Daher beschränke ich mich darauf, einfach nur auf Sally zu zeigen, die sie mit ihren perfekt manikürten Fingernägeln festhält.
»Du möchtest dein Gummibällchen wiederhaben?«, fragt Lavinia. Ihren Namen erfahre ich, weil eines der Mädchen, die um sie herumschwirren und an ihren Lippen zu hängen scheinen, sie so nennt, ehe sie laut loskichert.
Oberpeinlich! Ich sehe mich um und suche fieberhaft nach einer schlagfertigen Bemerkung, mit der ich mich aus der Verlegenheit retten könnte, doch ich sehe nur in lauter spöttische Augen. Diese Mädchen sind topmodisch gekleidet, duften nach Parfüm und sind so geschminkt, wie ich das niemals hinbekäme. Angesichts ihrer offenkundigen Perfektion fühle ich mich unwohl.
»Ja«, stammele ich verlegen.
Als Antwort wirft Lavinia Sally dem Mädchen mit den langen schwarzen Haaren zu, das neben mir steht.
»Bitte, könnte ich sie wiederhaben?« Ich versuche ruhig zu bleiben, obwohl das gar nicht so leicht ist. Meine Wangen röten sich, und meine Hände schwitzen.
Das schwarzhaarige Mädchen wirft Sally einem anderen Mädchen mit einer sorgfältig geföhnten goldblonden Mähne zu, deren Locken sich so schön einrollen und nach Vanille duften wie Zuckerkringel. Da greift ein muskulöser Arm ins Geschehen ein, schnappt sich die Kugel, und eine dunkle Männerstimme löst die gespannte Situation auf: »Lavinia, wie ich sehe, lässt du keine Gelegenheit aus, um dich in Szene zu setzen.«
»Umberto, was für eine Freude. Du hingegen lässt keine Gelegenheit aus, den Ritter für hoffnungslose Fälle zu spielen«, antwortet Lavinia, dreht sich auf dem Absatz um und verschwindet, gefolgt von den anderen.
»Das hier gehört wohl dir.« Der Junge reicht mir Sally.
Schnell nehme ich die Kugel und lasse sie hinten in einer Tasche meiner Jeans verschwinden. Er hat wunderschöne schlanke Hände, das ist das Erste, was mir auffällt, auch weil ich mich noch nicht getraut habe, hochzuschauen. »Danke«, flüstere ich und hebe den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen.
Gar nicht so übel, der Typ. Breite Schultern und der drahtige Körper eines Sportlers. Er hat braune Augen und Haare und ein unwiderstehliches Lächeln. Wenn es auf seinem Gesicht erscheint, bilden sich zwei Grübchen in den Wangen, und seine Augen leuchten noch intensiver.
»Ich heiße Umberto.«
»Scarlett.« Ich schüttele ihm energisch die Hand. Meine Großmutter sagt immer, dass ein kräftiger Händedruck wichtig ist, weil einen sonst keiner ernst nimmt. Sie sagt, es sei ein Zeichen für Aufrichtigkeit und Charakterstärke.
»Du hast einen wunderschönen Namen, Scarlett. Bist du neu hier? Ich würde mich bestimmt erinnern, wenn du mir schon mal über den Weg gelaufen wärst.« Er lächelt wieder und sieht mir tief in die Augen.
Ich werde rot. »Ja. Ich bin erst vor Kurzem umgezogen. Eigentlich wäre heute mein erster Tag in der elften Klasse in Cremona, und stattdessen bin ich hier, eine Fremde in Feindesland.« Seit ich meinen geliebten Glücksbringer zurückhabe, ist mir auch wieder nach Scherzen zumute, auch wenn es mir immer noch einen Stich ins Herz versetzt, von meiner Heimatstadt zu sprechen.
»Stets zu deinen Diensten, um dir diese Gegend weniger fremd und freundlicher erscheinen zu lassen. Apropos, achte nicht weiter auf Lavinia, sie ist nun mal so. Es macht ihr Spaß, die Neuen zu quälen.«
»Kennst du sie gut?«
»Sie geht in meine Klasse. Ihr Vater ist der Ingenieur Locatelli. Der Name sagt dir nichts? Auf jeden Fall wirst du bald von ihm hören, du musst bloß in die Turnhalle gehen.«
»Ein Ingenieur, der Sportunterricht gibt?«
Umberto muss lachen. Wieder erscheinen die Grübchen, wieder denke ich, dass er wirklich gut aussieht, und wieder werde ich rot.
»Er ist steinreich. Ein Industrieller aus der Gegend, der durch bedeutende Stiftungen an die Schule hervorgetreten ist. Unter anderem hat er die Turnhalle gesponsert.«
Wir laufen nebeneinander her. Umberto ist der erste freundliche Mensch, den ich treffe, seit ich hier bin. Ich lächle vor mich hin.
»Du weißt doch sicher, dass hier früher ein altes Kloster stand? Der Grundriss der Schule ist derselbe geblieben, genauso wie die Hauptfassade. Eines der wenigen Dinge, die den Umbau überlebt haben, neben den alten Handschriften, die in der Bibliothek aufbewahrt werden, und dem uralten Park. Ach, entschuldige … Du fragst dich sicher schon, ob ich einen Reiseführer zum Frühstück verspeist habe. Das liegt daran, dass ich mich leidenschaftlich für Geschichte und Archäologie interessiere.«
»Ach was. Das ist alles sehr interessant«, stottere ich. »Ich bin nur nervös. Es ist mein erster Tag …«
»Und es wird alles super laufen. Was hast du gesagt, du bist in der elften?«
»Elf Zett.«
»Genau gegenüber von meiner Klasse. Wir werden uns wohl noch öfter sehen, Scarlett.«
Oh Mann! Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Vielleicht ist es besser, wenn ich schweige. Ja, Scarlett, halt einfach den Mund.
»Dann könntest du mir mehr über das Kloster erzählen, über die alte Bibliothek und all diese anderen interessanten Dinge.« Nein! Das hört sich jetzt so an, als würdest du ihn aufziehen.
»Ich habe dich gelangweilt, stimmt’s? Aber ich verspreche dir, dass ich beim nächsten Mal über etwas anderes reden werde.«
»Nein, ich wollte sagen, du hast mich nicht gelangweilt. Ich mag Bücher. Auch Geschichte. Also entschuldige.«
»Mach dir keinen Kopf.« Er lächelt. Und ich stelle fest, dass er nicht nur ganz gut aussieht, sondern ausgesprochen attraktiv ist.
»Erzähl mir was über Lavinia. Ist sie Mitglied des Begrüßungskomitees für die Neuen?«, frage ich, um unpassende Gedanken zu vertreiben.
»Was soll ich sagen? Sie weiß, dass sie schön ist. Sie ist reich und daran gewöhnt, immer das zu kriegen, was sie will. Abgesehen von der Tatsache, dass alle Jungs hinter ihr her sind und die Mädchen sich darum reißen, in die ausgewählte Elitetruppe der Lavinia-Girls aufgenommen zu werden.«
»Der Lavinia-Girls?«, frage ich und muss losprusten.
»So habe ich sie genannt. Sie sehen doch aus wie aus einem Hochglanzmagazin und entstammen allesamt den reichsten Familien der Gegend. Sofia, das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren, ist die Tochter des Rektors. Dann hattest du das Vergnügen, Federica kennenzulernen, die – so leid es mir tut – in deine Klasse geht, außerdem ist sie Lavinias Cousine. Und da wären wir, das hier ist dein neues Klassenzimmer.«
Die Unterhaltung mit Umberto hat mir sehr geholfen, meine Nerven zu beruhigen. Ich danke es ihm mit einem breiten Lächeln. Er winkt einem Mädchen zu, deren braune Haare von einem Haarreif gebändigt werden. Sofort scheint ihr Gesicht zu strahlen, und sie kommt auf uns zu.
»Hallo, Umberto! Wie geht es dir?«, fragt sie schüchtern.
»Nicht schlecht. Ich wollte dir eine neue Freundin von mir vorstellen, die eben erst nach Siena gezogen ist. Scarlett, das hier ist Caterina. Caterina, das ist Scarlett.« Wir reichen uns die Hände, sehen einander an und finden uns sofort sympathisch.
»Sie hatte soeben eine Begegnung der unangenehmeren Art mit Lavinia. Du kennst das ja, stimmt’s?«
»Wechseln wir lieber das Thema. Woher kommst du, Scarlett?« Wenn sie spricht, klingt sie kontrolliert und freundlich. Sie hat ein süßes Lächeln und zwei große braune Rehaugen.
»Aus Cremona«, antworte ich mit einem gezwungenen Lächeln, während in meinem Kopf wieder die Bilder von meinen ehemaligen Mitschülern auftauchen. Da läutet es, und Umberto schaut mich an und lächelt mir aufmunternd zu. »Dann viel Glück, Scarlett.«
Ich mag es, wie er meinen Namen ausspricht.
Dann wendet er sich an Caterina. »Kümmerst du dich um sie?«, fragt er augenzwinkernd.
Sie wird rot und antwortet aufgeregt: »Keine Sorge, sie ist in guten Händen.« Zwei Mädchen lächeln mir zu, während wir durch die Klasse zu den einzigen beiden leeren Plätzen laufen.
»Ist das hier okay für dich?«, fragt mich Caterina.
»Aber sicher!« Vierte Reihe, neben dem Fenster. Die toskanische Sonne küsst mich durch die Scheibe und wärmt mich. Ich werfe einen Blick nach draußen in den Park und auf die Hügel im Hintergrund. Sie sehen aus wie gestürzte Schokopuddings mit Pistazienstückchen. Ich hole meinen Kalender und mein Federmäppchen aus dem Rucksack und seufze tief. Das erste Kapitel meines neuen Lebens ist geschrieben. Ich habe zwei sehr nette Menschen kennengelernt, die ersten seit dem Umzug nach Siena. Mit ein bisschen gutem Willen wird mein Trennungsschmerz nachlassen, auch wenn der Gedanke an Matteo und das, was aus uns hätte werden können, immer noch wehtut.