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Heute schiebe ich meine Abneigung gegen Sonntage mal beiseite.

Die letzten Tage waren ein einziger Albtraum, daher brauche ich dringend eine Pause von der Schule … Lieber Sonntag, ich akzeptiere deine Bedingungen. Ich ergebe mich, lass mich nur in deine Arme flüchten!

Marco sitzt auf der Schaukel und versucht, mit den Fußspitzen die Wolken zu berühren. Dabei schimpft er leise vor sich hin, weil es ihm nicht gelingt. Er plappert wie ein Wasserfall, während ich mich bei meinen Antworten auf ein sporadisches »Ja, genau« oder »Hmmh« beschränke, um meine Unaufmerksamkeit zu verbergen. Mein Körper ist hier, aber mein Kopf ist ganz woanders.

Mit dem Pinsel bewaffnet betrachte ich die Staffelei vor mir. Ich finde keine Harmonie zwischen den Bildern auf der Leinwand und denen in meinem Kopf. Die Inspiration ist dahin. Ganz weit weg.

Ich würde das Bild gern beenden, aber wo immer ich Farbe hintupfe, verschlimmere ich bloß das, was ich bereits gemalt habe. Die Farben werden immer düsterer, leerer, beliebiger.

Eine Woche der Isolation liegt hinter mir. Caterina hat die Zini gebeten, sich woanders hinsetzen zu dürfen. Sie hat sich dafür eine Ausrede einfallen lassen, irgendwas mit den Augen, und so ist sie in der ersten Reihe gelandet. Neben mir sitzt diese Plaudertasche Anna, auch das Maschinengewehr genannt. Von meiner dritten Reihe aus kann ich Caterinas Haarreif sehen. Sie sitzt neben Natalia, der Streberin. Ich habe sie in der kurzen Pause eifrig miteinander tuscheln sehen, dabei hat sie sie bis vor Kurzem noch gehasst. Alles scheint besser zu sein, als neben mir zu sitzen!

Die Pause verbringe ich jetzt immer in der Bibliothek. Das eine Mal, als ich bei den anderen unter Großmutter Eiche vorbeigeschaut habe, war eine einzige Katastrophe.

»Darf ich?«, habe ich gefragt.

Keine Antwort. Da habe ich mich mit gesenktem Kopf davongeschlichen.

Oma Evelyn würde mich überreden, es noch einmal zu versuchen. »Du musst kämpfen für das, was du liebst! In der Liebe wie in der Freundschaft muss man mutig sein.« Aber die Enttäuschung ist zu groß, und ich habe Angst, dass sie mich noch mehr verletzen könnten. Also lecke ich mir lieber meine Wunden hier zwischen den einzigen Freunden, die einen niemals hintergehen, den Büchern.

Abgesehen von Edoardo natürlich, der für mich in der vergangenen Woche noch wertvoller als je zuvor gewesen ist.

Keinerlei unpassende Fragen, so wie meine Mutter immer: »Was ist denn los? Stimmt etwas nicht? Du ziehst ein Gesicht wie auf einer Beerdigung! Jetzt sag schon, was los ist, oder verschwinde. Sonst steckst du mich mit deiner Traurigkeit noch an.« Jedes Mal überschüttet sie mich mit Fragen, und wenn ich dann nicht mit der Sprache rausrücke, regt sie sich auf.

Das Problem ist, dass jemand, der es bei mir mit der Brechstange versucht, grundsätzlich das Gegenteil erreicht. Dann igele ich mich ein und hülle mich in penetrantes trotziges Schweigen.

Edoardo dagegen hat versucht, mir auf die einzige Weise zu helfen, die er kennt: Jeden Tag hat er mir einen Satz, ein Zitat geschenkt, um meinen Schmerz zu lindern. Bis ich ihm dann am Freitagnachmittag mein Herz ausgeschüttet habe. Ich habe ihm alles erzählt, von Lavinias gemeinem Plan, mich schlechtzumachen, bis hin zu Caterina und Genziana, die ich für meine Freundinnen gehalten habe und die stattdessen lieber einem blöden ersten Eindruck geglaubt haben. Ohne mir eine Chance zu geben, alles zu erklären.

»Weißt du noch, was ich dir vor Kurzem vorgelesen habe? Manchmal muss man durch Leid, wenn man erwachsen werden will. Geh deinen Weg, Scarlett. Früher oder später werden deine Freundinnen die Augen aufmachen und sehen, wie du wirklich bist. Und wenn das nicht passiert, dann heißt das nur, dass sie keine echten Freundinnen sind. Und dann kannst du neue, unerwartete Freundschaften schließen. Apropos, wie ist denn Anna eigentlich, deine neue Banknachbarin?«

»Reden wir lieber nicht darüber. Sobald sie den Mund aufmacht, quatscht sie ununterbrochen. Mir wird ganz schwindelig beim Zuhören.«

»Besser es wird einem von Worten schwindelig als von übermäßigem Alkoholgenuss.« Da mussten wir beide loslachen.

An dem Tag trug er eine bonbonrosa Fliege zu einem gelben Hemd. »Rosa ist die Farbe der Freundschaft«, hat er gesagt.

»Das wusste ich gar nicht.«

»Und Fliegen sind ein Symbol für Freiheit.« Und mit diesen Worten hat er die Fliege abgenommen und mir geschenkt. »Eine Fliege für dich. Auf dass sie dich mit ihren Flügeln der Freiheit zu neuen Freundschaften trage.«

»Das kann ich nicht annehmen. Das ist zu viel …«

»Zu viel schlechter Geschmack? Ich erwarte ja nicht, dass du sie umbindest. Es soll eher eine Art Glücksbringer sein.«

Also eine neue Freundin für Sally, meine Sternenkugel. Jetzt schleppe ich in meiner Hosentasche auch immer die Fliege mit mir herum. Wenn das jemand mitbekommt!

Edoardo ist schon ein ganz besonderer Mensch. Er entspricht so ganz meiner Vorstellung von einem Vater. Mein richtiger Vater ist ganz anders. Das soll nicht heißen, dass ich ihn nicht liebe. Ganz im Gegenteil, ich liebe ihn abgöttisch! Aber oft ist er eher wie ein großer Bruder für mich. Und dass er so selten zu Hause ist, macht mir schwer zu schaffen.

»Scarlett, da ist Besuch für dich«, flötet meine Mutter in den Garten.

»Wer denn?«, fragt Marco. Mit einem Satz springt er von der Schaukel, um selbst nachzusehen.

»Sie hat Scarlett gerufen, nicht Marco«, stelle ich klar und strecke ihm die Zunge raus.

»Ein Junge. Ziemlich attraktiv …«, meint meine Mutter leise. Seit gestern trägt sie die Haare deutlich kürzer, schokoladenbraun mit hellen Strähnchen. So passt ihr Kopf perfekt zu den Farben des Herbstes.

Einen Augenblick lang gebe ich mich der absurden Hoffnung hin, dass es Mikael ist. Ich vermisse ihn. Wieder einmal ist er mir etwas nähergekommen, um dann zu flüchten. Jeden Tag renne ich nach dem Unterricht zu Black und finde nur das Kätzchen vor, die Schachtel mit dem Trockenfutter steht noch genauso da, wie ich sie am Vortag hinterlassen habe. Mikaels Körper eng an meinem, der Duft seines Körpers, den ich noch tagelang an mir wahrnehmen konnte … Nichts als eine ferne Erinnerung.

»Ich sollte eigentlich nicht hier sein«, hatte er gesagt.

»Hallo.« Ich erkenne Umberto an seiner Stimme, noch ehe ich ihn in den Garten kommen sehe. Hinter ihm macht meine Mutter so merkwürdige Verrenkungen. Ich glaube, er gefällt ihr.

»Hallo.« Ich verheimliche meine leise Enttäuschung nicht.

»Scarletts Verehrer ist da! Scarletts Verehrer ist da!«, trällert Marco vor sich hin.

»Ich dreh dir den Hals um, wenn du nicht sofort den Mund hältst.«

Umberto zerzaust ihm die Haare und erntet dafür einen grimmigen Gesichtsausdruck.

»Marco, komm. Du musst noch deine Hausaufgaben zu Ende machen«, mischt meine Mutter sich ein.

»Oh, Mann! Es ist Sonntag.«

»Keine Widerrede!«

Sie verschwinden, Umberto und ich setzen uns auf die Schaukeln. Eine Weile schweigen wir beide.

»Wie geht es dir?«, fragen wir dann gleichzeitig. Ich lächle und reibe mir verlegen die Nasenspitze, er macht das Gleiche.

»Gut«, sagt er.

»Mir auch. Na ja, eigentlich … hundsmiserabel«, gebe ich zu.

»Scarlett, in der Schule rennst du immer gleich weg, und auch Caterina benimmt sich merkwürdig. Kann ich vielleicht mal erfahren, was los ist? Und vor allem, was wolltest du mir sagen, als du dich mit mir verabredet hast?«

»Das ist jetzt nicht mehr wichtig.«

»Für mich schon.«

Ich schaue ihn zum ersten Mal an, seit wir uns auf die Schaukeln gesetzt haben. »Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen kann.« Außerdem ist es ein Thema, das mir an die Nieren geht, und ich möchte nicht vor ihm in Tränen ausbrechen.

»Du kannst mit mir doch über alles reden.« Sein Blick ist offen und aufrichtig. Er lächelt und nickt mir aufmunternd zu.

»Okay. Aber ich muss sicher sein, dass ich dir absolut vertrauen kann.«

»Du kannst mir vertrauen, Scarlett. Für dich würde ich alles tun.«

Ich werde rot und wende mich erschöpft ab, lasse den Blick abschweifen zu dem verlassenen Turm, der sich vor uns in der Ferne erhebt. Ich erzähle ihm alles von Anfang an. Von dem Moment, als Genziana mich beiseitegenommen und über Caterinas Gefühle aufgeklärt hat bis zu diesem unseligen Tag im Garten der Schule. »Ich wollte dich bitten, ihr ein paar Nachhilfestunden in Mathe zu geben, das war alles. Sofia muss den Zettel gelesen haben, den ich dir in der Fünfminutenpause gegeben habe. Dann hat sie Lavinia Bescheid gesagt. Den Rest kennst du ja.«

»Es tut mir so leid … Das ist alles meine Schuld, ich hätte besser auf den Zettel aufpassen müssen. Aber ich war so durcheinander! Als ich gelesen habe, dass du mich treffen wolltest, habe ich geglaubt, du würdest endlich …« Jetzt wendet er den Blick ab. »Ach, schon gut.«

Ich ermutige ihn nicht, fortzufahren. Ich möchte lieber so tun, als wüsste ich nicht, was er nicht ausgesprochen hat. Daher nehme ich den Faden wieder auf: »Sie reden nicht mehr mit mir, sie fühlen sich hintergangen. Caterina hat sich umgesetzt, und Genziana sieht mich immer so an, als wäre ich … ach, was weiß ich, als würde ich kleine Kinder zum Frühstück verspeisen oder so. Sie hassen mich, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Du musst gar nichts tun. Ich werde dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kommt.«

»Und wie? Sie würden mir doch niemals glauben. Sie halten mich für gemein und hinterhältig.«

»Du bist ein wunderbarer Mensch.« Er nimmt meine Hand in beide Hände. »Sieh mich an, Scarlett«, meint er leise.

Ich sehe in seine Augen. »Du bist wunderbar, hast du gehört? Ich werde alles in Ordnung bringen. Eigentlich ist das Ganze ja meine Schuld.«

»Caterina wird wütend werden.«

»Caterina gegenüber werde ich so tun, als wüsste ich nicht, was sie für mich empfindet. Wie ich es ja schon die ganze Zeit getan habe.«

»Willst du damit sagen, du … du hast gemerkt, dass sie …«

»Ich bin ja nicht völlig verblödet. Das war der Grund, warum ich ihr keine Nachhilfe mehr gegeben habe. Ich wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen, für mich ist sie nur eine Freundin.«

»Das wusste ich nicht … Und jetzt?«

»Hoffen wir mal, dass ihre Schwärmerei bald vorübergeht. Zumal mein Herz von jemand anderem besetzt wird und ich nicht die Absicht habe, diesen Menschen einfach so aufzugeben.« Er drückt meine Hand und sieht mir tief in die Augen.

»Es ist besser, wenn du jetzt gehst«, stottere ich. Ich stehe auf und entferne mich ein wenig.

»Gibt es einen anderen?«

Ich antworte nicht. Jetzt wird es allmählich peinlich.

»Ich habe dich gefragt, ob es jemand anderen gibt.« Umberto steht ruckartig auf. Die Schaukel quietscht.

»Ich bitte dich, Umberto, ich habe jetzt keine Lust, darüber zu reden.«

»Ist es Mikael Lancieri?«

Ich schweige. Und zusammen mit meinen niedergeschlagenen Augen, die stur auf den violetten Stern an meinen Schuhen starren, spricht mein Schweigen eine ziemlich deutliche Sprache.

»Der passt nicht zu dir. So einen sollte man lieber vergessen.«

»Lass das mal meine Sache sein!«

»Dann stimmt es also … Du hast dich in ihn verknallt. Ich glaub’s nicht. Was findet ihr bloß alle an diesem arroganten Kerl?« Umbertos Stimme zittert vor Wut. Ich habe noch nie erlebt, dass er so die Beherrschung verliert.

»Jetzt solltest du wirklich besser gehen. Das meine ich ernst.«

Dieses Mal hört er auf mich und verschwindet.

Ohne sich zu verabschieden.