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Nein! Bitte, lass mich gehen!

Ein sich wiederholendes Geräusch, ganz fern im Hintergrund.

Die Schattengestalt mit den roten Augen steht wieder vor mir. Ich versuche zu fliehen. Ich stolpere. Der Schatten packt mich. Ich falle schwer hin. Meine Beine, ich kann sie nicht mehr bewegen!

Ruckartig fahre ich hoch.

Ich liege schweißgebadet in meinem Bett. Die Decke hat sich wie ein fester Strick aus schlimmen Träumen um meine Beine gewickelt.

Ich kehre wieder in die Gegenwart zurück. Die Bilder sind verschwunden, aber das sich wiederholende Geräusch ist geblieben. Es kommt vom Fenster.

Kleine Steine prasseln gegen das Glas. Jemand ruft leise nach mir. Auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem gehe ich dorthin, der Boden unter meinen Füßen ist kalt.

Als ich vor dem Fenster stehe, sehe ich ihn.

Mikael.

Er gibt mir zu verstehen, dass ich zu ihm kommen soll.

Ich bemühe mich, keinen Lärm zu machen, während ich mir das Sweatshirt mit den Katzenohren über das weite Bambi-T-Shirt streife, das ich als Schlafanzug trage. Dann schlüpfe ich in die Leggings und Turnschuhe. Bei jeder knarrenden Stufe setzt mein Herz kurz aus.

Bevor ich aus dem Haus gehe, schnappe ich mir den Schlüsselbund.

Wir beide unter dem endlos schwarzen Nachthimmel. Eine winzige Mondsichel erhellt schüchtern Myriaden von Sternen. »Der zunehmende Mond schenkt den Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Mit ihm erneuert sich der Zyklus des Lebens«, hat Genziana einmal gesagt.

Ich kann nur hoffen, dass das stimmt.

Mikael macht ein finsteres Gesicht. Ich laufe ihm entgegen. In den letzten Tagen habe ich mir tausendmal vorgestellt, wie es sein wird, wenn ich ihm begegne, ich habe mich gefragt, ob ich Angst vor ihm haben würde und vor den Geheimnissen, die er verbirgt. Stattdessen habe ich jetzt nur noch den einen Wunsch, mich in seine Arme zu flüchten. Ihn ganz nah bei mir zu spüren und mich in seinen Augen zu verlieren. Tiefe blaue Ozeane, in denen die ersten Sterne der Nacht schimmern, jeder einzelne ein Versprechen.

Ich presse mich fest an ihn. »Jetzt geht es mir gut … Ich möchte nur, dass du mir voll und ganz vertraust, Mikael …«

Schweigen.

Es fällt mir nicht leicht, mich von ihm zu lösen. Aber der Wunsch, ihm in die Augen zu sehen, siegt. »Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, um mich zu retten.«

»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dich zu verlieren.«

Er streichelt mich. Ich spüre seine weiche Hand auf meinem Gesicht, auf meinem Hals. Sie gleitet den Arm hinunter und ergreift schließlich meine Hand.

»Wer bist du wirklich?«, frage ich ihn mit zitternder Stimme.

»Komm mit«, flüstert er.

Ich folge ihm, als müsste es so sein. Als wäre ich voll und ganz erfüllt von seinem Namen, seinem Wesen, seinem Duft. Genau wie in dem Lied der Dead Stones. Closer. Es scheint nur für mich geschrieben, jedes Wort scheint seine Bedeutung zu haben.

Hand in Hand laufen wir den Weg entlang, der zu dem verlassenen Turm führt. Mikael steuert darauf zu, ohne dass ich ihm gesagt hätte, dass ich schon immer dorthin wollte. Seit dem Tag, an dem wir hierhergezogen sind.

Die kalte Luft peitscht mir ins Gesicht. Das Gelände wird immer unwegsamer, und die Geräusche der Nacht umgeben mich. Aber ich habe keine Angst.

Die Fragen, die mich in den letzten Tagen gequält haben, sind endlich verstummt. Im Augenblick zählt nur eins: Mikael ist an meiner Seite. Ich möchte nur mein Herz sprechen lassen.

Ich keuche vor Anstrengung, die Steigung wird immer steiler. Er zeigt kein Anzeichen von Erschöpfung.

»Schaffst du es?«, fragt er mich.

Als Antwort stolpere ich über einen vorspringenden Stein.

Er lässt meine Hand los, und ich fühle mich verloren, aber nur für diesen einen Augenblick.

Da legt er auch schon einen Arm um meine Taille und hilft mir, indem er mich sanft vorwärtsschiebt.

Jetzt fehlt nicht mehr viel. Das Ziel ist nah. Dieses Mal komme ich mir wirklich wie die Heldin aus einem Märchen vor, doch der Turm, der sich vor uns erhebt, ist nicht mein Gefängnis, sondern das Ziel all meiner Wünsche.