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Der Himmel verbreitet ein weißes, gleichförmiges Licht.

»Es wird bald schneien«, sagt Genziana.

Ich reiße mich aus meinen Gedanken und zwinge mich zu einem Lächeln. Caterina liegt auf dem Sofa mit dem grafisch gemusterten Bezug im Retrolook und redet ununterbrochen, aber ich habe den Faden verloren.

Die orangefarbene Lavalampe auf dem Beistelltisch scheint gleich zur Decke abheben zu wollen.

Genzianas kleine Wohnung wirkt sehr gemütlich und ist im Stil der Siebziger eingerichtet. Aus einem Foto in einem gelben Rahmen lächelt uns ihre Mutter entgegen. Sie trägt Schlaghosen und eine Bluse mit Blumenmuster. Mutter und Tochter gleichen einander tatsächlich wie ein Ei dem anderen: dieselben schmalen grünen Augen, Sommersprossen über das ganze Gesicht und die gleiche rote Mähne.

Ich frage mich, ob seit ihrem Tod hier nichts verändert wurde und sie all die Dinge, die diese Wohnung so schön bunt machen, noch selbst ausgesucht hat.

»Hast du die Gewürzkräuter mit nach Hause genommen?«, fragt Caterina.

»Nur die empfindlichsten. Ich hatte Angst, dass sie bei der Kälte eingehen würden.« Das Zimmer ist nicht sehr groß, ein bunter Perlenvorhang trennt die Kochnische ab. »Möchtet ihr einen Kräutertee?«

»Sehr gern! Heute will mir einfach nicht warm werden … Das wird wohl an diesem scheußlichen Wetter liegen!« In Wirklichkeit spüre ich diese Kälte in mir, seit ich Mikael aus meinem Leben verbannt habe.

Genziana stellt den Wasserkessel auf den Herd und holt aus kleinen Glasgefäßen einige getrocknete Blätter. Auf den Etiketten lese ich: Melisse, Minze. Ich gehe ans Fenster zurück und schaue hinaus. Ein paar Schneeflocken schweben herab.

»Der erste Schnee des Jahres!«, schreit Caterina begeistert.

»Wünsch dir was«, sagt Genziana, während sie mit dem Geschirr klappert.

Mir kommt bloß ein Wunsch in den Sinn. Schnell verjage ich ihn wieder und setze mich zu Caterina auf das Sofa.

»Umberto hat aufgehört, sich so komisch zu verhalten. Und da heißt es immer, Frauen sind launisch. Was soll man dann erst über die Männer sagen? Erst ignoriert er mich und läuft meiner besten Freundin hinterher … Oops! Also, ich wollte sagen … einer meiner besten Freundinnen …«

»Das habe ich gehört!«, zieht Genziana sie auf.

»… dann ist er plötzlich wie ausgewechselt, tut so, als hätte er sich bis über beide Ohren in mich verliebt und löchert mich mit Fragen. Und schließlich ist er von einem Tag auf den anderen wieder der Freund von vorher. Höflich, aber distanziert!«

Genziana kommt mit einem Tablett mit drei dampfenden Tassen und Gewürzplätzchen zu uns. Sie setzt es auf dem Beistelltisch ab, wirft ein großes Kissen auf den Boden und hockt sich darauf.

»Hast du jetzt erst herausgefunden, dass Männer seltsame Wesen sind? Aber du weißt doch, Angriff ist die beste Verteidigung: Deswegen werfen sie uns ihre Fehler vor.«

»Und du, wie kommst du damit klar?«, frage ich Cat.

»Ach, ehrlich gesagt ganz gut. Sein plötzliches Interesse für mich hat mich eher verwirrt, auch weil ich nicht begriffen habe, was er wirklich bezweckt hat. Jetzt bin ich viel ruhiger. Zumindest hatte ich meinen ersten Kuss. Es ist immer sehr peinlich, wenn man zugeben muss, dass man noch nicht …«

Mikael und ich haben uns nie geküsst. Und dabei habe ich mir so oft vorgestellt, wie das wohl wäre.

»Alles in Ordnung mit dir, Scarlett?«

Die Zehn-Millionen-Dollar-Frage. Die Frage, die mir in letzter Zeit alle stellen. Geht es dir gut? Du wirkst so merkwürdig. Wo bist du nur mit deinen Gedanken?

Nein! Nein, es geht mir gar nicht gut. Ich kann mir Mikael einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Er fehlt mir wahnsinnig, als ob man einen Teil von mir entfernt hätte. Eine Wunde, die nicht aufhört zu bluten, eine furchtbare Leere, die nichts zu füllen vermag.

Und jetzt bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe.

»Ja … Alles in Ordnung. Ich habe bloß versucht, herauszufinden, woraus du dieses Gebräu gemischt hast.« Ich trinke einen Schluck Tee, damit meine Lüge glaubwürdiger wird. Oh, ich bin gut im Lügen geworden, das muss man sagen. Eine ganz natürliche Entwicklung, da die anderen einfach nicht aufhören, Fragen zu stellen, und es jedes Mal zu sehr wehtut, in mich hineinzuhorchen.

Black fehlt mir auch. Ich bin nicht mehr in die Abstellkammer gegangen, aus Angst, ich könnte …

»Und Mikael? Ich will dich ja nicht zwingen, darüber zu reden, aber vielleicht würde es dir helfen.« Das kam von Genziana.

»Mikael … Vielleicht waren wir beide einfach zu verschieden. Unsere Wege haben sich getrennt.«

»Ihr wart so ein schönes Paar!«, zwitschert Caterina und fängt sich damit gleich einen Ellenbogenstoß von Genziana ein.

Ich stehe auf und gehe mit der Tasse in der Hand ans Fenster.

Vor ein paar Tagen hat mich die Zini am Ende des Unterrichts beiseitegenommen. »Scarlett, ich sehe, dass du in letzter Zeit nicht ganz bei der Sache bist. Deine Leistungen haben stark nachgelassen, und du scheinst dich auch deinen Freundinnen gegenüber abweisend zu verhalten. Hast du Probleme zu Hause?«, hat sie mich gefragt. Ihre grünen Augen schienen direkt in meine Seele zu blicken.

»Nein, das heißt … doch. Es gibt schon den einen oder anderen Streit bei mir zu Hause. Ich werde versuchen, mich besser zu konzentrieren. Und mich anstrengen, um das nachzuholen, was …«

»Darum geht es nicht. Es ist nur so, wenn du mit jemandem reden möchtest, kannst du auf mich zählen.«

Da konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten und bin weggerannt, damit der Rest der Klasse das nicht mitbekam.

Mikael hatte recht, ich bin wirklich leicht zu durchschauen. Schon wieder er …

»Ich vermisse das Gefühl, verliebt zu sein. Man schwebt die ganze Zeit auf Wolken«, seufzt Genziana.

»Mir geht es eigentlich ganz gut. Jetzt, wo Umberto wieder nur noch ein Freund ist, habe ich mein Gleichgewicht wiedergefunden. Kein Herzklopfen mehr und keine offenen Haare, weil sie ihm so besser gefallen. Ich liebe meinen Haarreif!«

Das fröhliche Geplapper meiner Freundinnen wird zu einem fernen Rauschen im Hintergrund.

Mikael. Und wenn er recht hatte? Wenn ich nur zu feige bin? Liebe erfordert Mut, und ich war nicht tapfer genug. Wenn ich an den menschlichen Teil von ihm denke, stelle ich mir vor, dass er blutet.

Ich habe ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, während er bis zuletzt nur versucht hat, mich zu beschützen.

Girl from the Stars, das Lied, das er mir gewidmet hat.

»Wie geht es aus?«, habe ich ihn auf dem Ponte Vecchio gefragt, unter uns die Fluten des Arno.

»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht opfert er sich, damit das Mädchen, das er liebt, ein friedliches Leben führen kann. Vielleicht wird sie in Zukunft hin und wieder an ihn denken.«

Ein Stich ins Herz. Soll das wirklich das Ende sein? Und ich war es, die diese Entscheidung getroffen hat.

»Scarlett, bist du da?«

Ich zucke zusammen und denke mir schon die nächste Lüge aus.