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Ich trete schnell in die Pedale. Eine letzte anstrengende Steigung, und ich stehe vor einem riesigen schmiedeeisernen Tor. VILLA MONTEBELLO steht auf einem Metallschild. Ich klingele und ein paar Sekunden später öffnet sich das Eisentor. Ich schiebe das Fahrrad über den mit Kies ausgestreuten Hof, der von einem Park mit einem dichten, jahrhundertealten Baumbestand umgeben ist, bis zu einer wunderschönen, wenngleich ein wenig heruntergekommen wirkenden Jugendstilvilla. Eine lange mit Efeu überwucherte Freitreppe führt zum Eingang hinauf. An der Tür erwartet mich ein älterer Mann in blauer Livree.

»Guten Abend«, sagt er zu mir.

»Hallo … Ich möchte zu Ofelia«, antworte ich schüchtern.

»Sie erwartet Sie schon. Ich bringe Sie hin.« Er begleitet mich zur Rückseite des Hauses, wo ein paar Stufen nach unten in ein Kellergeschoss führen.

Eigentlich hätte ich erwartet, Musik zu hören. Stattdessen sind nur erregte Stimmen zu vernehmen. »Ich begreife nicht, was du dir dabei gedacht hast! Eine Fremde hierher einzuladen! Was zum Henker ist denn bloß mit euch allen los?« Das ist Vincent. Die Enttäuschung über seine Freundin scheint genauso groß zu sein wie sein Misstrauen mir gegenüber.

»Sie ist anders«, sagt Ofelia.

»Na, jedenfalls ist eure Freundin jetzt da.« Hätte Vincent mich nicht angekündigt, hätte ich mich wahrscheinlich vor Verlegenheit wieder verdrückt. Wo ich auch hinkomme, scheine ich eine Menge Durcheinander zu verursachen.

»Hallo«, sage ich, setze mich in eine Ecke und hoffe, dass sie meine Anwesenheit gleich wieder vergessen.

»Hallo, Scarlett!« Mikael begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln und küsst mich auf die Wange. Ich erröte.

Dagon sitzt am Schlagzeug, mit der unvermeidlichen verkehrt herum aufgesetzten Kappe auf den wasserstoffblonden Haaren, die er zu zwei Wikingerzöpfen zusammengebunden hat.

Ofelia setzt sich neben mich, sie hält einen matt glänzenden Instrumentenkoffer in den Händen.

»Das Intro von dem neuen Song überzeugt mich nicht. Ich würde die Basssequenz einen Halbton höher setzen«, sagt Mikael.

»Ich finde es genau richtig so, wie es ist.«

»Ist das dein letztes Wort, Vincent?«

»Ich finde Mikaels Vorschlag gut«, mischt sich Dagon ein. »Mit seiner Änderung würde man mit mehr Drive zum Chorus kommen.«

»Aber ich bin der Sänger. In letzter Zeit habe ich ein bisschen zu oft euren Forderungen nachgeben müssen.«

Die Spannung in der Luft ist beinahe mit Händen greifbar. Ihre Unruhe steckt mich an. Ich bewege die Beine, um etwas von dieser Nervosität abzubauen, ich kann einfach nicht still dasitzen.

Ofelia macht mir ein Zeichen, und wir wechseln auf eine Holzbank im Hintergrund des Raumes. Sie öffnet den Kasten und holt eine sehr alt aussehende, glänzende Violine mit geradezu sinnlichen Kurven heraus.

»Du spielst Geige?«, frage ich sie.

Als einzige Antwort beginnt sie, das Instrument zu stimmen, dabei lässt sie den Bogen anmutig über die vier Saiten gleiten.

»Warum spielst du nicht bei den Dead Stones mit? Die Violine würde sich gut in ihre Songs einfügen.«

»Ich spiele für mich selbst, um nicht zu vergessen …«

»Lässt du das endlich? So kann ich mich nicht konzentrieren. Dieses Gewinsel von deinem Instrument hat uns jetzt gerade noch gefehlt!«, fährt sie Vincent an.

Ofelia wirft ihm einen wütenden Blick zu, und ich beobachte, wie sie über die Treppe nach oben verschwindet. Vincent ist wirklich unerträglich. Ich werfe ihm ebenfalls einen giftigen Blick zu und folge ihr.

Verwirrt schaue ich mich um. Ich kann sie nirgendwo entdecken. Nach einer Weile ertönt eine sehnsüchtige Melodie aus einem Winkel im Park. Sie führt mich zu Ofelia.

Mit tränenverschleierten Augen erschafft sie eine Sinfonie aus tiefmelancholischen Klängen. In ihrer Vergangenheit muss etwas Schreckliches passiert sein, flüstert mir eine innere Stimme zu. Etwas, das sie durch den leichten Fluss der Musik zu kanalisieren vermag.

Umrahmt vom grünen Blätterwerk des Parks, mit dem Bogen, der in ihren Händen herumwirbelt und dem feinen Spitzenstoff, der ihre schmalen Handgelenke schmückt, erscheint Ofelia von einer geradezu erschreckenden Schönheit.

»Danke für die Einladung … Ich wollte dir nur sagen, dass ich weder dein noch Mikaels Vertrauen je missbrauchen werde.«

»Ich weiß.« Ofelia wirkt, als wäre sie weit entfernt, aber trotz ihrer äußerlich kühlen Art ist ihre Sanftmut deutlich zu spüren. Wie kann sie nur mit jemandem wie Vincent zusammen sein?

Auf einmal verstummt die Musik. Sie sieht mich durchdringend an: »Hast du dich je gefragt, warum sich die Menschen so von einem sturmbewegten Meer angezogen fühlen? Oder von Gewittern, die dich bis ins Innerste die Gewalt der Natur spüren lassen?«

Ich finde keine Antwort darauf.

»Vincent ist so. Ein stürmischer, wilder Ozean. Das Brüllen der Wellen, der heftige Wind – es raubt dir den Atem, aber gleichzeitig lässt es dich so lebendig fühlen.«

Zum zweiten Mal bemächtigt sie sich meiner Gedanken. Sie und Mikael sind einander ähnlich, und vielleicht ist Vincent ja das komplette Gegenteil von beiden, aber zugleich auch die passende Ergänzung.