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Regungslos, unfähig, meinem Körper den Willen meiner Seele aufzuzwingen, beobachte ich die schreckliche Szene, die sich vor meinen Augen abspielt. Die schwarze Pantherin, in die sich meine Freundin mit den violetten Augen verwandelt hat, blutet.

»Was glaubtest du hier zu erreichen?« Livio scheint der Kampf überhaupt nichts ausgemacht zu haben. »Indem du allein hierhergekommen bist, hast du dein eigenes Todesurteil unterzeichnet.«

Seine Kraft ist ungeheuer, unermesslich. Er überragt sie, seine Augen sind zwei pulsierende Abgründe. Die Sehnen an seinem Hals treten hervor wie Drahtseile. Ein verzerrtes Grinsen lässt sein Gesicht unmenschlich wirken.

Er braucht nur einen Arm zu heben, und die Pantherin fliegt gegen die Wand. Von einer Staubwolke umhüllt versucht sie wieder aufzustehen.

Ein zweiter Wink, und der Dämon schleudert sie an die gegenüberliegende Wand. Die Ziegel bröckeln. Als der Staub sich verzieht, sehe ich Ofelias Körper auf dem Boden liegen. Sie hat wieder ihre menschliche Gestalt angenommen, und ein blutiges Rinnsal läuft ihr aus dem Mund.

Ich möchte schreien, mich auf ihn stürzen. Dann würde ich wenigstens kämpfend sterben. Stattdessen bin ich in einer kraftlosen Hülle gefangen.

Meine Muskeln reagieren nicht. Nur die Tränen strömen aus meinen Augen und ziehen Spuren über mein Gesicht.

Angst.

Ohnmacht.

Livio geht zu Ofelias leblosem Körper, um ihr den Todesstoß zu versetzen.

»Nein!«, schreie ich innerlich.

Die schwere Tür des Turms explodiert buchstäblich.

Holzspäne und Metallteile fliegen umher.

Mikael und Vincent stürmen in den Raum.

Mikaels Augen sind so hell wie in der Nacht, als er mich gerettet hat. Die von Vincent sind tiefschwarz und glänzen, Raubvogelaugen.

Sie umkreisen Livio.

Ein Blick auf Ofelias reglosen Körper, und Vincent greift als Erster wütend an: »Du hast es gewagt, sie anzufassen!«, ruft er und stürzt sich wie eine Furie auf den Dämon.

Der Zusammenprall ist verheerend. Livios Füße, die er wie Haken in den Boden rammt, hinterlassen Spuren im Stein. Als er beiseitetritt, ist auf dem Boden ein dunkler Fleck, wie von verbranntem Öl.

Der Dämon reagiert mit einem von oben nach unten geführten Hieb, der Vincent am Halsansatz trifft. Eine blutrote Wunde zerreißt die schneeweiße Haut des schwarzäugigen jungen Mannes, er fällt auf die Knie und krümmt sich. Er senkt den Kopf, aber nur für einen Augenblick. Ein finsterer Lichtschein umgibt ihn nun und hüllt ihn ein. Seine Muskeln pulsieren, die gespannten Adern scheinen platzen zu wollen.

Er hebt den Kopf. Die düstere Aura zeichnet ein Paar Rabenflügel um ihn. Die Haare, die einen Teil seines Gesichts verdecken, wirken wie glänzende, messerscharfe Federn, aus den Händen wachsen ihm Krallen.

»Ich sehe, wir haben einen Halbdämon der Rache unter uns«, sagt Livio.

Wenn Vincent sonst eine Aura der Unruhe und des Geheimnisvollen umgibt, dann wirkt er jetzt furchterregend. Dennoch hat er seine düstere Schönheit nicht verloren. Er nimmt Anlauf, und mit einer schnellen Bewegung reißt er Livio die Beine weg. Der Dämon stürzt zu Boden, dass die Grundfeste des Turmes erzittern.

Mikael ist in eine blaue Aura eingehüllt. Das Gesicht ist in einer scheinbar schmerzhaften Konzentration verzerrt. Zwischen den schmalgliedrigen Fingern hält er nun eine Energiekugel, die er auf den noch am Boden liegenden Livio schleudert.

Die Ziegelsteine um ihn herum zerbröckeln bei dem Aufprall. Eine einzige Staubwolke. Wenn Mikael ihn nicht getötet hat, muss er ihn ganz sicher verletzt haben. Es folgt eine lange Stille.

Als die Staubwolke verfliegt, ist Livio nicht mehr dort. Er steht hinter Mikael! Er packt ihn an der Kehle und versucht, ihn zu erwürgen. Er ist noch größer geworden, und seine Züge haben alles Menschliche verloren. Nichts an ihm, an diesem bestialischen Gesicht erinnert an den Jungen, den ich kannte. Roter Rauch dringt zwischen den Hauern hervor, die an die Stelle seiner Zähne getreten sind. Die Haare werden kürzer, seine Haut wird schuppig, dunkelbraun. Auf der Stirn sind ihm spitze, verdrehte Hörner gewachsen.

Mikael windet sich, die blaue Aura leuchtet immer stärker.

Feine schwarze zugespitzte Federn lösen sich von Vincents Händen und treffen wie ein Stachelregen den Rücken des Dämons, aber sie schaffen es nicht, seine neue Panzerhaut zu durchdringen.

Ich kann meine Finger bewegen! Die Zeit vergeht, der Zauber, der mich gelähmt hat, löst sich. Mein Wille erwacht allmählich wieder. Es muss mir gelingen, meine Beine zu bewegen, damit ich diesen magischen Kreis verlassen kann.

Wenn ich doch nur das Buch zurückholen könnte! Der Dämon hält es fest in seiner linken Hand, während er kämpft. Eine Hand genügt ihm, um seine beiden Gegner in ernste Bedrängnis zu bringen.

Mikaels Haut verfärbt sich bläulich, der Griff um seinen Hals wird immer enger. Er fletscht die Zähne, und von seinem Rücken erheben sich jetzt mächtig die Fledermausflügel. Durch die Wucht seiner Verwandlung lockert das Ungeheuer den Griff.

Mikael steht auf. Er befreit sich von den Überresten seines T-Shirts. Seine Muskeln sehen aus wie in Stein gemeißelt. Ein Netz aus erhabenen Adern überzieht seinen Körper und verleiht ihm das wilde Aussehen eines Raubtiers. Er ist von einer brutalen Schönheit.

Der kräftige Schlag seiner Flügel zerzaust meine Haare und wirbelt Schuttwolken auf. Ich klappere schnell mit den Lidern, um den Staub loszuwerden. Allmählich erlange ich wieder die Kontrolle über meinen Körper. Vorsichtig bewege ich die Beine, bis ich mich an den Rand des magischen Kreises geschleppt habe. Das kostet mich ungeheure Kraft.

Ich kann die Linie nicht übertreten, sie ist glühend heiß! Sie verbrennt die Haut wie ein unsichtbares Feuer.

»Darkroven, ich hätte wissen müssen, dass du es bist. Du hast überall Spuren deiner Anwesenheit hinterlassen. Du hast dich nicht im Mindesten darum gesorgt, die Hinweise zu verbergen, deine Arroganz ist grenzenlos.«

»Ihr seid stärker geworden seit unserer letzten Begegnung. Aber nicht stark genug, um euch mir entgegenstellen zu können. Geht aus dem Weg! Lasst mich das Ritual vollenden, oder ihr werdet sterben.«

Als einzige Reaktion darauf stürzt sich Mikael wie eine Furie auf den Dämon, packt ihn mit eisenhartem Griff und umklammert ihn, bis er ihn zu Boden gerissen hat. Die Beine des Ungeheuers biegen sich in einem unnatürlichen Winkel. Sie scheinen kurz davor zu brechen. Knacks! Die Knochen bröckeln. Es knirscht mehrmals. Die Oberschenkel bedecken sich mit stacheligen Haaren. Anstelle der Füße erscheint ein Paar Hufe, und die Beine verwandeln sich in Tierläufe. Das Ungeheuer schlägt seine Krallen in Mikaels Brust und hinterlässt dort tiefe Kratzer, die sofort vernarben.

Da geht Vincent auf den Dämon los und verpasst ihm eine Reihe von Geraden ins Gesicht. Dann eine Drehung des Oberkörpers, er spannt den linken Arm und versetzt dem anderen einen Hieb von unten nach oben, der den Kopf des Monsters so heftig gegen die Mauer knallen lässt, dass die Steine zerbröckeln.

Ofelia hustet inmitten einer Staubwolke. Sie hat das Bewusstsein wiedererlangt. Als sie versucht sich auf die Arme zu stützen, um aufzustehen, versagen sie ihr den Dienst. Sie ist zu schwach.

»Ofelia!« Endlich habe ich meine Stimme wieder. Mein Schrei erregt Mikaels und Vincents Aufmerksamkeit. Einen Augenblick sind sie abgelenkt. Und der Augenblick ist verhängnisvoll.

Die Luft brennt plötzlich, und ohne dass ich begreife, woher die Schläge kommen, sehe ich, dass ihre Körper wie Marionetten mit durchgeschnittenen Fäden an die gegenüberliegende Wand fliegen. Risse tun sich in der Mauer auf wie Spinnennetze.

Umgeben von einem gleißend hellen roten Licht bewegt das Ungeheuer wie ein Puppenspieler die Arme, und auf jeden seiner Befehle werden die beiden von einer Wand an die andere geschleudert.

Der Raum ist wie eine Vision der Hölle. Es wirkt wie während eines Bombenangriffs. Dumpfes Dröhnen. Herabfallende Trümmer. Staub.

Ich huste. Meine Augen umarmen zärtlich Mikaels Silhouette. Es gelingt ihm nicht, dem Wirbel der Schläge zu entkommen, die auf ihn eindreschen.

»Neein!«

Das Buch der Siegel liegt im Schutt auf dem Boden. Der Dämon hat es fallen lassen. Ich bemerke, wie Ofelia sich mit zusammengebissenen Zähnen auf den Ellenbogen über den Boden vorwärtsschleppt, um es an sich zu bringen.

Darkrovens Lachen erfüllt die Luft. Eine unheilvolle Drohung, die das Trommelfell zerreißt.

Ofelia holt das Buch. Sie drückt es an ihre Brust und schleppt sich zu mir.

»Sie werden nicht mehr lange durchhalten. Vincent hat sich von seiner Wut leiten lassen und dadurch sinnlos Kraft verloren. Es ist ihnen nicht gelungen, ihren Angriff zu koordinieren … Sie haben nicht begriffen, dass Darkroven zunächst nur mit ihnen gespielt hat, um ihre Fähigkeiten auszutesten.« Ofelias Gesicht ist geschwollen. An den Lippen klebt getrocknetes Blut. Verzweiflung trübt ihre Stimme.

Kann denn wirklich alles verloren sein?