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Wie lange dauert diese Qual jetzt schon? Mikael und Vincent versuchen aufzustehen, werden aber immer wieder von den Kraftwellen niedergestreckt, die Darkroven ihnen entgegenschleudert.

Werde ich hilflos dabei zusehen müssen, wie der Mann, den ich liebe, getötet wird und wie Ofelias strahlend violette Augen für immer verlöschen? Wird mein Opfer jenes Tor öffnen, sodass die Dämonen in unsere Welt eindringen können? Was wird dann aus meinem Bruder und seinen Träumen? Aus Mama, Papa und Oma Evelyn … Und was wird aus meinen Mitschülern, Genziana, Caterina?

Ich zittere heftig, meine Zähne klappern. Ein unheilvolles Geräusch, in meinen Ohren klingt es wie der Countdown bis zum bitteren Ende.

Ofelia sieht mich an. Sie streckt eine Hand aus und durchbricht mit ihrem Arm den magischen Kreis. Anscheinend kann ich ihn zwar nicht verlassen, aber kein Zauber verhindert, dass jemand eindringen kann.

Sie umklammert meine Hand. In ihrer anderen hält sie das Buch der Siegel, fest entschlossen, es bis zum Tod zu verteidigen.

»Hab keine Angst … Ich werde nicht zulassen, dass dir auch nur ein Haar gekrümmt wird«, verspricht sie mir. Tränen verschleiern ihre violetten Augen. »Sollte Darkroven Mikael und Vincent wirklich besiegen, werde ich dich in einen ewigen Schlaf versetzen. Du wirst nichts spüren. Du wirst einfach die Augen schließen, und der ganze Schmerz wird vorbei sein.« Sie schluchzt heftig. »Ich wünschte, ich hätte mehr Macht, aber das ist alles, wozu ich imstande bin.«

Ich führe ihre Hand an mein Gesicht. »Das ist schon in Ordnung so. Du hast alles getan, was in deiner Macht stand. Ich allein bin schuld, dass das Buch befreit wurde.«

Ein Teil des Daches bricht ein und stürzt auf die blutenden Körper von Mikael und Vincent.

»Oh nein! Die Trümmer hätten Darkroven treffen sollen, jetzt, wo er nicht mehr das Buch der Siegel hat, um ihn zu beschützen. Stattdessen …« Ofelia bringt kaum mehr als ein Flüstern heraus.

Ich schüttele diese lähmende Furcht ab. Die Wut besiegt meine Angst. Dann schreie ich so laut, dass mir meine Stimmbänder wehtun: »Vergesst, was zwischen euch steht! Ihr müsst vereint kämpfen! Nur so haben wir eine Chance.«

Darkroven sieht mich verächtlich an. »Ihr habt schon lange keine Chance mehr. Die Zeit ist vorbei für solch lächerliche Hoffnungen, von denen ihr Menschen euch nährt.« Seine Stimme klingt hohl und düster.

Als ich mich wieder zu den beiden anderen umdrehe, liegen dort nur noch Trümmer, und sie sind verschwunden.

Ich entdecke sie auf einer anderen Seite des Raumes. Mikael stützt Vincent, tiefe Wunden und oberflächliche Schnitte überziehen beide Körper. Die blaue Aura ist nur noch ein schwacher Schein.

»Vertrau mir«, höre ich ihn sagen.

Vincent nickt. Er beißt die Zähne zusammen. Dann richtet er sich auf, auch wenn es ihn Mühe kostet, und Entschlossenheit kehrt in seinen Blick zurück. Sie zerfetzen sich die Handgelenke. Beißen in ihr eigenes Fleisch auf der Suche nach Blut. Dann vereinen sie ihre Handgelenke in einer Verbrüderungsgeste. Explosionsartig wird neue Energie aus ihren Auren freigesetzt.

Blaue und schwarze Energie mischen sich in einem einzigen Strom, der den ganzen Raum erfüllt.

Jedes einzelne Molekül scheint unter der mächtigen Kraft ihrer Vereinigung zu zittern. Die Luft verdichtet sich. Darkrovens Bewegungen werden langsamer. Blitze zucken durch den Raum. Plötzlich entlädt sich die gesamte Energie in einem einzigen Punkt. Eine schwarzblaue Lichtwolke stürzt auf den Boden ein und öffnet zu Füßen der Höllenkreatur einen gierigen Abgrund.

Schlagartig verschwindet jede Arroganz aus den Augen der Bestie.

Ein Wirbelsturm kommt über sie und saugt sie ein. Tausende von Krallen scheinen sie zu zerfetzen, bis sie in einem Tornado von unmenschlichen Schreien verschwindet.

Schwefelgestank.

Der Abgrund scheint noch nicht genug zu haben. Tiefe Risse breiten sich rasch in einem weit verzweigten Muster über den Boden aus.

Ganz hinten in meiner Kehle spüre ich einen metallischen Geschmack. Mein Blick trübt sich. Das Adrenalin in mir hat sich erschöpft, und mein Bewusstsein reicht nur noch für einen kurzen Moment.

»Mikael …«

Dunkelheit umfängt mich.