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Es war genial, die werden immer besser!«, ruft Laura aus, ihr Make-up ist verschmiert, und sie hat einen verträumten Ausdruck auf dem Gesicht.  

»Oh ja, ich habe immer noch die Melodie von Between you and me im Ohr«, seufzt Genziana.

»Sie hätten auch grottenschlecht spielen können, das hättet ihr doch gar nicht bemerkt, so sehr habt ihr auf Vincents Tätowierungen oder die Schultern von dem anderen gegafft!« Lorenzo schaut zu Genziana, die ihn jedoch keiner Antwort würdigt.

Ich höre ihre Stimmen wie aus der Ferne, als gehörten sie zu einer anderen Welt. Aber eigentlich bin ich diejenige, die durch eine neue Dimension schwebt. Verloren zwischen den Haaren von Großmutter Eiche, der niedrig stehenden Sonne am Horizont und dem letzten Geplauder vor dem Abschied, den wir nicht mehr lange hinauszögern können.

Wie dumm von mir … Ich habe mir doch wirklich eingebildet, dass Mikaels Eisaugen trotz all der Menschen einen Moment lang tatsächlich meinen begegnet sind. Und jetzt bin ich nicht mehr dieselbe wie vorher. »I’m closer to you«, sang er gerade mit seiner tiefen Stimme. Da hat er sich zu mir gedreht, und es war, als ob plötzlich die Welt um mich herum verschwände. Verschluckt von den Gefühlen, dem Herzklopfen, den Schauern, die mir über den Rücken liefen. »I’m closer to you«, hat er wiederholt, und in dem Moment gab es nur ihn und mich. Und seine Stimme. Ein weicher Fluss, in dem ich mich gerne verloren hätte.

»Hallo, Scarlett, bist du da?«, fragt Caterina. »Erde an Scarlett.«

»Ja … Entschuldige. Was hast du gesagt?«

»Ich sagte, dass ich bei Livio manchmal eine Gänsehaut bekomme. Er bleibt immer für sich und redet mit niemandem.«

»Er redet mit niemandem, weil niemand mit ihm redet. Vergiss nicht, dass er wie ich neu an der Schule ist. Es ist nicht leicht, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden mit all den neuen Gesichtern, unbekannten Lehrern und dem ganzen Rest.« Ich ereifere mich richtig, Caterinas Worte haben bei mir einen wunden Punkt getroffen. Ich springe auf.

»Wohin gehst du?«, fragt Laura.

»Livio eine Gelegenheit zum Reden zu geben«, antworte ich mit einem ironischen Unterton. Ich gehe zu ihm. Er sitzt abseits mit einem Buch in der Hand im feuchten Gras, das intensiv nach Grün duftet. Er ist so in seine Lektüre vertieft, dass er zusammenfährt, als ich ihn erreiche.

»Ich wollte dich nicht erschrecken. Hat dir das Konzert gefallen?«

»Willst du die Wahrheit hören? Ich hab’s verpasst. Ich mag keine laute Musik. Da bin ich lieber in der Bibliothek geblieben und habe gelesen.«

Auch diesmal fällt mein Blick auf den Aufdruck auf seinem T-Shirt. VIDEOGAMES RUINED MY LIFE. Und etwas darunter: GOOD THING I HAVE TWO EXTRA LIVES. Ich wende die Augen ab, lächle, und kurz darauf herrscht zwischen uns verlegenes Schweigen. Es tut mir leid, dass Livio es nicht schafft, sich in die Klassengemeinschaft einzufügen, aber ich kann ihm nicht wirklich dabei helfen. Wären Umberto und Caterina nicht gewesen, würde ich wohl auch irgendwo in einem Winkel des Parks für mich allein sitzen und lesen, genau wie er.

»Gut, dann gehe ich mal wieder«, stammele ich.

»Ciao.«

»Seht mal die beiden Turteltäubchen! Sind sie nicht wie füreinander geschaffen?« Lavinias Stimme ist das Letzte, was ich jetzt hören will, nachdem ich mich eben noch so schön in die Melodie von Closer versenkt habe. Ich will nicht daraus aufwachen. Wenn ich sie nicht beachte, wird sie schon wieder dahin verschwinden, woher sie gekommen ist.

»Wir sehen uns dann morgen, Livio«, sage ich.

»Bis morgen, mein Schatz, ich vermisse deine Pickel schon jetzt!«, äfft mich Sofia mit künstlich hoher Stimme nach. Ich könnte platzen vor Wut.

»Lass gut sein. Bald wird für sie der Tag der Abrechnung kommen«, sagt Livio, steht auf und geht in die entgegengesetzte Richtung. Ein Schauer läuft mir eiskalt den Rücken hinunter.

Mit gesenktem Kopf laufe ich nach Hause. Ich habe mich hastig von allen verabschiedet und bin schnell verschwunden. Die Scherze auf Livios Kosten treffen mich genauso. Ich hatte nicht den Mut, ihn zu verteidigen, sondern habe ihn lieber ziehen lassen und ihm den Rücken zugedreht wie alle anderen. Caterina hätte sich ihren Kommentar wirklich sparen können. Sie beklagt sich, dass Livio mit niemandem redet, aber sie ist die Erste, die ihm aus dem Weg geht.

Um wieder zur Ruhe zu kommen, stelle ich mir ganz automatisch Mikaels vollkommenes Gesicht vor. Die langen Wimpern um diese hellen und ausdrucksstarken Augen, die wie Edelsteine funkeln. Der melancholische Blick, der in mir die unbezähmbare Sehnsucht geweckt hat, ihn zu umarmen und ihm stundenlang zuzuhören, ohne ihn zu unterbrechen. Und dabei kenne ich ihn nicht einmal! Ich bin wirklich eine dumme Gans, genau wie all die kleinen Mädchen, die während des Konzerts seinen Namen geschrien haben.

Am Ende der Show haben sich die Dead Stones in das große Zelt hinter der Bühne zurückgezogen. Ein Mädchen, das ich vorher noch nie gesehen habe, folgte ihnen in ein paar Metern Abstand. Ich habe sie nur ganz kurz von hinten gesehen, aber trotzdem hat sie meine Neugier geweckt. Ein schwarzer Pagenkopf, ein kurzer schwarzer Spitzenrock wie das skurrile Tutu einer Gothic Ballerina. Netzstrümpfe und an den Füßen klobige Springerstiefel. Sie hatte etwas ganz Besonderes an sich … Sie bewegte sich sehr anmutig und elegant. Ihr Gesicht konnte ich leider nicht erkennen. Ob diesem Mädchen Mikaels Herz gehört? Vielleicht hat er Closer, das Lied, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht, extra für sie geschrieben. Was würde ich darum geben, das zu wissen.

Aber was würde es im Grunde ändern? Nichts. Einer wie Mikael Lancieri würde eine unbedeutende graue Maus wie mich niemals bemerken. Ich starre auf den Stern an meinen Chucks, in Gedanken bin ich immer noch bei dem Bassisten der Dead Stones, und mein Herz klopft laut. Hinter mir ertönt Motorenlärm, und automatisch weiche ich an den Straßenrand aus. Ich bleibe stehen und schaue auf. Drei schwarze Motorräder kommen auf mich zu. Die ersten beiden flitzen an mir vorbei, aber ich erkenne auf der Seite des ersten eine Airbrushlackierung, einen schwarzen Panther.

Die dritte Maschine wird langsamer. Der Motorradfahrer klappt das Visier seines Integralhelms auf. Eine fließende Bewegung aus dem Handgelenk, und plötzlich sehe ich in zwei Augen aus Eis. Nur ein kurzer Blick – und schon ist er fort, verschwindet in den Sonnenuntergang.

Mikael?

Aber sicher … Meine Fantasie geht mit mir durch. Ich schüttele den Kopf und setze meinen Weg fort. Auch ich gehe dem Sonnenuntergang entgegen, meine Gedanken hängen immer noch diesen Augen nach, die sich unauslöschlich in meinem Kopf festgebrannt und meine Sehnsucht geweckt haben.