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Der Mond leuchtet uns den Weg. Mikael schiebt stumm mein Fahrrad neben uns her. Ich schaue hinunter auf meine Schuhspitzen.

Dann kann ich meine Gefühle nicht länger zurückhalten. »Ich möchte dir so nah sein, dass wir eins werden«, flüstere ich. »Du hast Angst, ich könnte mich erschrecken, aber du bist doch derjenige, der am liebsten davonlaufen möchte.«

Mikael lässt das Fahrrad los, es fällt mit einem dumpfen Knall zu Boden.

Jetzt ist er ganz nah an meinem Mund. Seine Augen sind wie verwandelt, noch heller als sonst, beinahe wie in jener Nacht in der Bibliothek.

»Mein Blut enthält ein sehr gefährliches Gift. Ich … könnte dir wehtun. Und ich würde sterben, wenn das passieren sollte. Wenn ich die Kontrolle verlieren sollte …«

Ein Schauder durchfährt mich, aber nicht allein wegen der kühlen Nachtluft.

Er starrt mich einen Augenblick lang an, dann öffnet er seine Jacke und umarmt mich fest. Ich spüre die Muskeln seines Brustkorbs durch den dünnen Stoff des T-Shirts. Unsere Lippen sind ganz nah beieinander. Aber sie berühren sich nicht.

»Deine Mutter wird sich Sorgen machen.«

Er zieht die Jacke aus und legte sie mir um die Schultern. Wir gehen schweigend weiter. In einem ausreichenden Sicherheitsabstand zum Haus bleiben wir stehen. Meine Mutter könnte aufgeblieben sein, um auf mich zu warten.

»Ich möchte gern, dass du das hier bei dir trägst.« Ich halte ihm meinen Glücksbringer hin und lasse ihn zart in seine Hand gleiten.

»Das kann ich nicht annehmen. Den hattest du schon als kleines Mädchen.«

»Bitte … Er wird dich beschützen, und in diesem kleinen Sternenhimmel wirst du finden, was du suchst.«

Er küsst meine Hand und sieht mir fest in die Augen: »Bis morgen, Scarlett.«

»Ist das ein Versprechen?«

»Ja, das ist es.«

Das Lächeln auf meinem Gesicht verschwindet, als ich die Silhouette meiner Mutter am Fenster erkenne.

»Hältst du das für die richtige Zeit, um nach Hause zu kommen?«, geht sie auf mich los, sobald ich durch die Tür komme.

»Ich hab doch gesagt, dass ich mich auf den Test vorbereiten muss.«

»Du bist seit dem frühen Nachmittag aus dem Haus. Verkauf mich doch nicht für dumm! In letzter Zeit machst du ein wenig zu oft, was du willst.«

»Und was ist mit dir? Mein bester Freund ist gestorben, und du hattest nicht ein Wort des Trostes für mich!«

»Du ziehst dich doch immer gleich zurück und igelst dich ein, sobald ich dich frage, was los ist!«

»Ich … ziehe mich zurück? Ich versuche bloß, in diesem Chaos zu überleben! Du und Papa, ihr streitet euch doch nur noch. Du denkst nur an dich und diesen blöden Salon, den du aufgeben musstest!« Das hatte ich eigentlich gar nicht sagen wollen, aber jetzt ist es zu spät. Simona hat Tränen in den Augen.

»Geh sofort in dein Zimmer!«, sagt sie mit bebender Stimme.

Manchmal bin ich gut mit Worten. Gut darin, die Menschen zu verletzen, die ich liebe. Ich bleibe auf halber Treppe stehen. Am liebsten würde ich zurücklaufen und sie umarmen und um Verzeihung bitten.

Aber es geht nicht.