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Hastig betrete ich das Krankenhaus.

»Scarlett, warte auf uns!« Ich achte nicht auf Genziana.

Ich pralle gegen eine Krankenschwester. »Hey, pass doch auf!«

Am Empfang muss ich mich gewaltsam zurückhalten, um nicht loszuschreien. »Marco Castoldi, das ist mein Bruder, er ist hier eingeliefert worden.«

»Einen Augenblick, ich muss nachsehen. Wann wurde er eingeliefert?«

»Beeilen Sie sich doch bitte!« Meine Beine geben nach.

Meine Freundinnen stützen mich. »Alles wird gut, bleib ruhig.«

»Es tut mir leid, junge Frau. Hier habe ich nichts. Versuchen Sie es bei der Notaufnahme.«

Ich muss ihn sofort finden, ich muss mich vergewissern, dass es ihm gut geht.

Vor der Notaufnahme warten eine Menge Leute. Ein Mädchen weint in den Armen seiner Mutter.

»Bleib hier, ich geh fragen.«

»Beeil dich, Genziana, bitte.«

Einen Moment später kommt sie schon wieder zurück. »Chirurgie, dritter Stock.«

»Was, Chirurgie?!«

An den Aufzügen steht wieder eine Schlange. Ich kann nicht mehr warten, ich renne die Treppe hinauf, nehme immer zwei Stufen auf einmal. Als ich im dritten Stock ankomme, bin ich völlig außer Puste. Ich haste durch die Glastür und erkenne gleich Mama und Papa am Ende des Ganges. Sie sitzt auf einer Bank und hat den Kopf in den Händen vergraben. Die Haare bedecken ihr Gesicht. Er steht neben ihr, lehnt mit den Schultern an der Wand und starrt mit leerem Blick vor sich hin.

»Papa!«, schreie ich.

»Schatz …« Er läuft mir entgegen und umarmt mich.

»Was ist passiert?«, frage ich unter Tränen.

»Scarlett, setz dich doch erst einmal.«

»Ich will mich aber nicht setzen!«

»Jetzt mach doch nicht alles noch schwerer.« Seine großen blauen Augen sind gerötet, über sein Gesicht ziehen sich Falten, die mir vorher noch nie aufgefallen sind. Er wirkt schlagartig um Jahre gealtert. »Es war vor unserem Haus … Fahrerflucht …« Er verstummt.

Alles dreht sich. Wenn mich Genziana nicht von hinten stützen würde, wäre ich vielleicht hingefallen. Sie schiebt mich zu der Bank, wo ich mich neben meine Mutter setze.

»Er wollte dich überraschen … Er wollte lernen, ohne Stützräder mit dem Fahrrad zu fahren. Erinnerst du dich, dass du ihm gesagt hast, er wäre mittlerweile alt genug dafür? Jeden Nachmittag hat er geübt, ohne dass du etwas davon mitbekommen hast, er wollte, dass du stolz auf ihn bist.« Simona spricht ganz leise und mit zitternder Stimme, ohne aufzusehen, ihr Gesicht ist immer noch in ihren Händen verborgen.

»Aber ich bin doch immer stolz auf ihn!«

»Er hat gesagt, wenn er richtig Rad fahren kann, würdet ihr zusammen zu dem verlassenen Turm fahren.«

Das stimmt. Immer wieder hat er mich gedrängt, mit ihm einen Ausflug dorthin zu machen, aber ich habe ihm jedes Mal gesagt, das würde ich erst tun, wenn er Rad fahren könnte. »Du bist doch viel zu alt für Stützräder, meinst du nicht?«, habe ich ihn aufgezogen. Ich habe ihm gesagt, er wäre ein Angsthase. Aber das hatte ich doch nicht ernst gemeint!

Wenn ich ihn heute in den Film mit der kurzsichtigen Fledermaus mitgenommen hätte, dann wäre ihm nichts passiert.

Cat streichelt mir über die Haare. »Es wird alles gut«, flüstert sie.

Es muss alles gut werden. Wenn ihm etwas zustößt … Wenn ich ihn verlieren sollte, weil ich nur an mich gedacht habe, drehe ich durch vor Schmerz.

»Wo ist er jetzt?«

»Im OP. Seit mehr als einer Stunde.«

Papa läuft auf und ab. Das Echo seiner Schritte hallt durch den Gang.

»Wie konnte das passieren? Warum ausgerechnet er?«

»Er war allein draußen. Dein Vater und ich haben gestritten. Du warst nicht da … Was sind wir für eine tolle Familie!« Sie bricht schluchzend ab.

Papa legt einen Arm um sie, aber sie schüttelt ihn mit einer brüsken Bewegung ab.

So bleiben wir jeder für sich allein, wie Schiffbrüchige auf dem weiten Ozean der eigenen Unzulänglichkeiten. Jeder trägt schwer an der Last seiner Schuldgefühle. Jeder kämpft mit seinen eigenen Gespenstern.

Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erscheint, kommt eine Schwester aus dem OP. »Der Oberarzt ist in wenigen Minuten bei Ihnen.«

Ein großer Mann mit breiten Schultern nähert sich uns, der grüne Mundschutz hängt noch vor seinem Gesicht. »Sind Sie die Eltern?«

Sie nicken.

»Wir haben alles getan, was wir konnten …«

»Er kommt doch durch, nicht wahr, Herr Doktor? Sagen Sie mir, dass Marco außer Gefahr ist!« In Mamas Stimme liegt die pure Verzweiflung.

»Die innere Blutung ist gestoppt. Doch der Kleine hat ein schweres Schädeltrauma erlitten. Sie müssen jetzt stark sein …«

»Was heißt das? Warum müssen wir stark sein? Ich möchte meinen Sohn sehen!« Mama springt auf.

»Im Moment ist das nicht möglich. Wir bereiten gerade das Zimmer für ihn vor. Einer von Ihnen darf diese Nacht bei ihm bleiben. Der Junge liegt im Koma, und sein Zustand ist ernst. Jetzt können wir nur noch abwarten … und hoffen.«

»Er wird doch wieder aufwachen, nicht wahr?«, frage ich.

»Er ist ein kräftiger Junge. Ich rate Ihnen allen, jetzt erst einmal nach Hause zu gehen und sich ein wenig auszuruhen. Marco hat hier alles, was er braucht. Sobald es Neuigkeiten gibt, werden wir Sie anrufen.«

»Ich gehe nirgendwohin!«, sagt meine Mutter.

Der Oberarzt nickt Papa zu. Eine Krankenschwester bringt ein Glas Wasser. »Bitte, trinken Sie das. Danach fühlen Sie sich besser.«

Ich schluchze weiter vor mich hin, meine Schuldgefühle bohren sich schmerzhaft wie Scherben in meine Haut.