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Hallo?« Marcos helle Kinderstimme. »Scarlett, es ist für dich!« Er bringt mir das schnurlose Telefon. »Dein Freund ist dran«, meint er und streckt mir die Zunge raus.

Ich versuche, ihn zu kneifen, aber er entgleitet mir flink wie ein Goldfisch.

»Ja?«

»Leg nicht gleich auf. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.« Umberto klingt aufgeregt.

»Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt …«

»Ich habe Beweise, dass Mikael ein Geheimnis verbirgt. Seine Eltern sind nicht bei einem Flugzeugunglück umgekommen. Er hat alle angelogen.«

Ich bin sprachlos. Das glaube ich nicht. Mikael hätte mich in einer so wichtigen Angelegenheit niemals belogen.

»Wir sehen uns in einer halben Stunde im Infierno

Ich muss einfach wissen, was er herausgefunden hat. »Okay«, mehr bringe ich nicht heraus.

Ich habe eine schlimme Vorahnung. Sobald ich aufgelegt habe, stürmt Angst auf mich ein wie eine Schar von dunklen Gewitterwolken. Aber ich werde mich meiner Angst stellen. Und Umberto. Ich werde mich mit ihm treffen, und zwar in genau dem Klub, der eine Wende in meinem Leben eingeleitet hat.

Ich werde ihm nicht erlauben, sich zwischen mich und denjenigen zu stellen, den ich liebe.

Mikael hat mich so oft verteidigt, heute werde ich ihn beschützen. Vielleicht sind seine Geheimnisse in Gefahr. Vielleicht geht es um Wahrheiten, die so bestürzend sind, dass sie das Gleichgewicht der ganzen Welt erschüttern könnten. Seit jener Nacht habe ich jedes Mal, wenn ich nach unten auf den Boden schaue, Angst, dass eine Krallenhand aus dem Erdreich schießen könnte, um mich zu packen.

Ich sollte mich besser beeilen, wenn ich nicht zu spät kommen möchte.

Mama ist in der Küche damit beschäftigt, den Vorratsschrank zu putzen. Sie versucht, ihre Zeit bestmöglich auszufüllen, jeden Tag denkt sie sich etwas Neues aus, nur um etwas zu tun zu haben.

»Ciao, Ma, ich geh noch mal weg. Ich muss zu einer Freundin, mir die Unterlagen für den Philosophiekurs zurückholen.«

»Um diese Uhrzeit?«

»Ja … Bis vor Kurzem war er noch in meiner Klasse. Ich hatte ihm einige Fotokopien geborgt, und die brauche ich jetzt unbedingt.«

»Hast du nicht gerade gesagt, du gehst zu einer Freundin?« Ausgerechnet jetzt, wo ich es eilig habe, muss Simona mich ins Gebet nehmen.

»Das stimmt. Er hat die Unterlagen zu meiner Freundin gebracht, weil er weiß, dass ich nicht gern zu Jungs nach Hause gehe.«

»Da muss ich dir allerdings recht geben. Zieh dich warm an, draußen ist es kalt.«

»Das reicht schon so, das Sweatshirt ist gefüttert.«

»Kommt nicht infrage. Sonst wirst du wieder krank wie beim letzten Mal.«

»Ach, Ma!« Nicht mal die großen Hundeaugen funktionieren.

»Wenn du noch mal rauswillst, dann geh und zieh dir was an!«

Widerspruch ist zwecklos. Ich ziehe den grauen zweireihigen Mantel an, der mir bis zu den Knien reicht, und laufe noch mal schnell nach oben. Ich leere meine Schublade aus und schmeiße alles in der Gegend herum. Schal, Handschuhe und Mütze. Jetzt bin ich sogar für den sibirischen Winter gerüstet.

Ich wusste es. Es ist spät geworden. Und dann habe ich auch noch die Kette vergessen, um mein Fahrrad abzuschließen.

Umberto sitzt etwas abseits in einer Ecke des Klubs, vor ihm auf dem Tisch steht ein halbvolles Glas Bier.

»Entschuldige die Verspätung«, keuche ich völlig außer Atem.

Er schaut mich überrascht an. »Hallo Scarlett, ich hatte nicht erwartet, dich hier zu treffen.«

Er muss sich mit dem Bier sein Gehirn weggesoffen haben. Wenigstens klingt er deutlich besser gelaunt als am Telefon.

»Darf ich mich zu dir setzen?«

»Aber sicher, hier, nimm Platz.«

»Also, was wolltest du mir erzählen?«

Verwirrt schaut er mich an.

»Hallo, Erde an Umberto?! Mikael und sein Geheimnis! Erinnerst du dich jetzt?«

»Offen gestanden nicht. Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du sprichst.«

»Jetzt ist wirklich der falsche Moment, um mich auf den Arm zu nehmen!«, möchte ich ihn am liebsten anschreien. Aber irgendetwas stimmt nicht mit seinem Gesicht. Es wirkt so leer, wie abwesend.

»Du hast nicht zufällig zu viel getrunken? Gut, ich habe mich verspätet, aber wie viele davon hast du dir in der Zwischenzeit reingezogen?«, frage ich und zeige auf sein Bier.

»Also, ehrlich gesagt ist es mein erstes. Was meinst du damit, du hast dich verspätet? Warst du mit jemandem verabredet?«

Plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich schaue mich um. Dann springe auf und sage: »Entschuldige mich mal kurz.« Damit bin ich auch schon auf dem Weg zum Barmann. Es ist derselbe nette Typ, der Ofelia und mir beim Konzert einen ausgegeben hat.

»Hallo! Darf ich dich was fragen?«

»Nur zu.«

»Siehst du meinen Freund dort hinten? Hast du gesehen, ob er mit jemandem geredet hat, ehe ich gekommen bin?«

»Na klar! Mit dem Bassisten der Dead Stones.«

Ich fühle, wie die Welt um mich zusammenbricht.

Vielleicht hat Mikael sich ja in Umbertos Kopf geschlichen, um seine Erinnerungen durcheinanderzubringen. Er hat mir gesagt, dass es nicht bei allen gleich gut funktioniert, aber dass bestimmte Gedanken ihn erreichen, wenn sie besonders intensiv sind. Hat er mitbekommen, dass Umberto ihm nachspioniert hat?

Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Ich kann nicht glauben, dass er so etwas getan hat. Das würde ja bedeuten, dass er mich angelogen hat! Und dass er Erinnerungen manipuliert, unser wichtigstes Gut.

Mir bleibt die Luft weg, ich muss hier raus.

Der Himmel ist genauso düster wie meine Gedanken.