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Strömender Regen. Ich habe mir die Kapuze meines Sweatshirts tief in die Stirn gezogen und fühle mich wie ein triefnasser, in Tränen aufgelöster Streuner. Ich sehe wieder Lavinias verächtliche Augen vor mir, als sie mir ihren Knutschfleck am Hals gezeigt hat. »Mikael spielt doch bloß mit dir, aber mit mir ist es ihm ernst.« Und ich sehe auch Umberto wieder vor mir, der zwar wütend war, aber auch eindeutig besorgt und ehrlich verliebt. Seine Worte haben Fragen in mir aufgeworfen, auf die ich keine Antwort finden will. Zweifel und Angst quälen mich: Ich habe keine Ahnung, was ich glauben soll, wem ich glauben soll. Und dann der letzte Blick von Mikael, der Refrain, den er mit seiner warmen, dunklen Stimme gesungen hat.

Your tears like glittering snowflakes, I feel your sorrow in my veins.

Ich zittere, aber nicht nur der Kälte wegen. Meine Gefühle entladen sich stoßweise, wie die Blitze, die immer wieder den Himmel durchzucken. Der Donner dringt bis in die hintersten Winkel meines Bewusstseins.

Ich laufe schneller. Dabei suche ich keinen Schutz unter den Fenstersimsen oder Vordächern der Häuser, ich lasse zu, dass der Regen mich mit all seiner Wucht trifft, damit er meine Schmerzen mit sich fortträgt. Bald weicht die enge Altstadt von Siena einer Straße, die von den Schatten mächtiger Bäume gesäumt wird.

Ich habe Angst. Ich bin es nicht gewohnt, nachts allein unterwegs zu sein, wo nur der schwache Schein der Straßenlaternen und der Widerschein der Blitze am Himmel meinen Weg beleuchten.

Die Straße ist eine schwarze Asphaltschlange. Meine Kleidung klebt schwer an mir, ich klappere mit den Zähnen. Ich glaube, dass ich mich verirrt habe, mitten in dieser großen Leere aus verworrenen Erinnerungen.

Doch da erkenne ich die scharfe Kurve, die zum San-Carlo-Gymnasium hinaufführt. Na endlich! Zur Schule sind es jetzt nur noch ungefähr hundert Meter, ich bin also in etwa einer Viertelstunde zu Hause. Und dann werde ich mich abtrocknen, etwas Heißes trinken, und vielleicht kann ich danach vor Erschöpfung einschlafen. Alles andere verschiebe ich auf morgen.

Für heute habe ich genug gesehen und gehört.

Heute Nacht wirkt der Park, der das San Carlo umgibt, als stamme er direkt aus einem Albtraum. Die gespenstischen Silhouetten der Bäume, die undurchdringliche Schwärze, die die Umrisse des Gebäudes verschluckt, und ein kleines helles Licht.

Da brennt Licht in der Bibliothek! Ich bin mir ganz sicher.

Wer kann das um diese Uhrzeit sein?

»Edoardo …«, flüstere ich.

Trotz Müdigkeit und Kälte ist mein einziger Gedanke, dass ich hier möglicherweise Antworten auf die bohrenden Fragen um seinen rätselhaften Tod finden könnte. Ich habe es ihm versprochen.

Ich schaue mich um. Keine Menschenseele ist zu sehen, man hört nichts außer dem strömenden Regen, der unermüdlich auf die Baumwipfel einprasselt. Die Kälte lässt alle Bewegungen erstarren.

Ich lege meine Hand auf das Metalltor. Es quietscht, lässt sich aber dennoch leicht öffnen. Die Kette liegt aufgebrochen am Boden.

Langsam laufe ich weiter und versuche dabei, den Pfützen auszuweichen. Ich lausche auf die Geräusche der Nacht. Da, ein Rascheln in den Bäumen, dann schwingt sich ein großer Uhu in die Lüfte. Schuhu, schuhu, schuhu.

Was will er mir sagen? Vielleicht, dass ich fliehen soll, und zwar so weit weg, wie ich nur kann.

Eine Zeitlang bleibe ich reglos vor dem äußeren Eingang zur Bibliothek stehen. Ich hatte nicht erwartet, die Tür angelehnt vorzufinden. Auf Zehenspitzen bewege ich mich vorwärts. Und ehe ich es wirklich merke, bin ich schon hineingegangen. Der glänzende Marmorboden reflektiert matt mein Spiegelbild. Die Brandspuren rufen die schrecklichen Erinnerungen von heute Morgen wach. Edoardos Hand, die unter dem weißen Tuch hervorschaut, vertrocknet, als hätte jemand alles Leben aus ihr herausgesaugt …

Ich blinzele angespannt und versuche, mich zu konzentrieren. Jetzt ist nicht der geeignete Moment, sich in Erinnerungen zu verlieren, ich muss hellwach bleiben. Hier könnte ein Dieb herumlaufen oder, schlimmer noch, vielleicht sogar der Mörder, der meinen Freund umgebracht hat.

Jetzt wird mir klar, was für einen schrecklichen Fehler ich begangen habe. Ich hätte die Bibliothek nicht betreten dürfen. Ich sollte nicht hier sein, aber dennoch balle ich die Fäuste und gehe weiter. Ich muss Klarheit gewinnen, ich brauche Antworten. Mein Zittern wird immer heftiger, zu der Kälte gesellt sich jetzt auch noch Nervosität. Bücher liegen auf dem Boden, aufgeschlagen und überall verstreut, als hätte sie jemand achtlos dorthin geworfen.

Das Handy, Scarlett, los, hol es schon raus!

Ich nehme es in die Hand, den Finger auf der Taste mit der Notrufnummer. Wie in Trance folge ich einem Geräusch, das mich zu der Wendeltreppe am Ende des Ganges führt. Ein merkwürdiger Geruch liegt in der Luft.

Ich erkenne ihn wieder, es ist derselbe beißende Gestank, von dem mir an jenem Tag schlecht geworden ist.

Ein Donner, dann geht das Licht aus. Ein Blitz erhellt die Nacht, wie das Blitzlicht einer Kamera. Ich kann meinen Schrei nicht aufhalten. Dann umgibt mich wieder Dunkelheit, mein Herz rast wie ein außer Kontrolle geratener Zug.

Ich taste mich an der Wand entlang und suche nach dem Schalter. Und da steht er plötzlich vor mir. Gierige rote Augen wie die eines Raubtiers. Sie gehören zu einer dunklen, mindestens zwei Meter großen Schattengestalt, die mich zu packen versucht, aber ich weiche aus und fange an zu rennen. Ich schreie, und es fühlt sich an, als würde man mir mit Schmirgelpapier die Kehle streicheln.

Ich keuche, schaue zurück, sehe den Schatten nicht mehr. Vielleicht habe ich ihn ja abgehängt.

Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gebracht, da steht er auch schon vor mir. In seinem hungrigen Blick erkenne ich meine Angst und die Erinnerung an den Albtraum, den ich vor einiger Zeit hatte. Ist es das, was man sieht, bevor man stirbt? Hat Edoardo in zwei Abgründe geblickt, aus denen ihm der Schmerz entgegenleuchtete, ehe er diese Welt verlassen musste?

Ich versuche zu flüchten, stolpere und knalle mit den Handflächen auf den Marmorboden. Ein stechender Schmerz. Das Handy schlittert einige Meter weg. Keine Zeit, es aufzuheben. Ich stehe auf, rutsche wieder aus und schlage mir das Knie auf.

Die Kraft der Verzweiflung lässt mich den Schmerz vergessen. Schon stehe ich wieder. Die dunkle Gestalt ist jetzt vor mir, sie überragt mich. In der Dunkelheit kann ich das Gesicht nicht genau erkennen. Nur die Augen, die wie Blutstropfen glänzen. Der Schatten schlägt sofort zu, ein brutaler Hieb. Ich fliege ein paar Meter durch die Luft wie eine schlaffe Gliederpuppe. Der Schmerz raubt mir den Atem.

Ich lande krachend an einer Wand und pralle mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Ich huste, fühle stechende Schmerzen in meiner Brust. Ich beiße die Zähne zusammen und stehe auf, aber das hilft nichts. Der Schatten ist schon wieder vor mir. Seine Hand schließt sich wie eine Zange um meinen Hals und hält mich an der Wand fest. Seine Berührung ist kalt wie Stahl, und vom stechenden Geruch seiner Haut tränen mir die Augen.

Ich strampele mit den Füßen, kratze, trete um mich. Alles umsonst. Ich kann nicht mehr atmen. Der stählerne Griff seiner Hand, die meine Kehle gepackt hält, wird immer enger. Schmerzhaftes Röcheln. Ich bereite mich darauf vor, mich vom Leben zu verabschieden, mit einem letzten flüchtigen Blick auf den schwarzen Himmel, der fast vollständig hinter einem dichten Regenvorhang verschwindet. Ein salziger Tropfen löst sich von meinen Wimpern und rinnt zu den Lippen herab.

»Mikael«, flüstere ich.