Die Sünde des Rades

 

Wenn Sie den eindeutigsten Beweis der Welt haben wollen, daß es so etwas wie Hellseher nicht gibt, dann brauchen Sie bloß mal ins Spielkasino zu gehen. Das sind Tempel, die der absoluten Gewißheit der Ungewißheit errichtet wurden. Auf jede Person, die behauptet, sie habe mal eine Vision der Zahl Zwölf gehabt, sei zum Roulettetisch gegangen, habe ihr gesamtes Hab und Gut auf die Zwölf gesetzt und sei mit einem Vermögen in den Taschen wieder abgezogen, kommen sechsunddreißig andere, die dieselbe Vision hatten, dasselbe Hab und Gut setzten und völlig pleite davonstolperten.

Kasinos leben von ihrem sogenannten Vigorish. Beim Roulette gibt es sechsunddreißig Zahlen. Wenn man einen einzigen Chip en plein, wie das dort heißt, auf eine der Zahlen setzt und diese gewinnt, dann erhält man dafür vom Kasino sechsunddreißig Chips steuerfrei – ehrliche Chancen von fünfunddreißig zu eins, denken Sie vielleicht. Aber nein, in Wirklichkeit sind siebenunddreißig Zahlen auf dem Rad: es gibt eine Null. Das Haus müßte ergo auf ein gewonnenes en plein das Siebenunddreißigfache auszahlen. Diese Differenz eines Siebenunddreißigstels ist der Vigorish. Dieser winzige Prozentsatz bezahlt die Croupiers, die Möbel und Requisiten, die Überwachungskameras und das ganze Drumherum eines gut ausgestatteten Kasinos und läßt noch genug Profit übrig, um Regierungsmitglieder zu bestechen, Bandenkriege zu führen und den Druck auf Rivalen und Autoritäten auszuüben, den ein eifriger Konzessionär braucht, um sein Haus der Spiele vor Störungen zu bewahren.

Kasinos mogeln nicht. Unter dem Rad sind keine Magneten, sie arbeiten nicht mit falschen Würfeln oder gezinkten Karten. Die Mathematik macht die ganze Arbeit. Ich mußte leider feststellen, daß es im amerikanischen Roulette nicht nur eine Null, sondern sogar eine Doppelnull gibt. Also verdoppeln sie ihren Vigorish sogar. Wie wir aus unzähligen Hollywood-Dialogen wissen, haben die Amerikaner gern »noch etwas in der Hinterhand«.

Ich erzähle Ihnen diesen ganzen Quatsch, weil ich gerade in Südfrankreich bin und in den zahlreichen Kasinos, die mir nur allzu gern die Gelegenheit geben, die Unabänderlichkeit der Gesetze des Wahrscheinlichkeitsrechnens unter Beweis zu stellen, kaum ein Würfelspiel an mir vorbeirollen lasse. Nach Gesprächen mit mehreren Croupiers wundere ich mich immer mehr über die erstaunliche Frechheit amerikanischer Kasinos mit ihren Doppelnullen.

Noch bevor im Golfkrieg vor über einem Monat der erste Feindflug stattfand, wurden im Fernsehen eine ganze Reihe von Straßeninterviews mit amerikanischen Bürgern gezeigt. Fast alle waren dafür, mit Gewalt gegen Saddam vorzugehen. Einer ihrer Gründe war, daß sie es »satt hatten, wie Amerika herumgeschubst wird«. Jedem Nichtamerikaner erscheint eine solche Vorstellung absolut unglaublich. Amerikaner werden herumgeschubst? Fragen Sie Angehörige eines beliebigen anderen Landes, ob die mächtigste Nation auf Erden ihrer Meinung nach wie der Prügelknabe auf der Weltbühne schikaniert und drangsaliert worden ist, und Sie werden das zu hören bekommen, was man ein »wieherndes Gelächter« nennt.

Wir selbst haben das ja schon hinter uns. Vom ersten Afghanistankrieg bis zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung Südrhodesiens fühlten sich die Briten von kleineren Ländern mißbraucht. Sie müssen bloß die Pressekommentare aus den Zeiten des Burenkrieges oder des Indienaufstands nachlesen. Das Schicksal einer Großmacht ist es nun einmal, Paranoia zu verspüren, sich wie Gulliver vorzukommen, der von piepsenden Liliputanerhorden mit Haar und Fingern an den Boden gepflockt wird. Damit will ich keineswegs irgend etwas über die Legitimation des Krieges gegen den Irak oder eines anderen Krieges gesagt haben, sondern lediglich versuchen, den amerikanischen Standpunkt nachzuvollziehen. Dort sieht man es so, daß ihre Macht und das Gefühl moralischer Verantwortlichkeit ihnen das Recht und die Pflicht geben, weltweit für Ordnung zu sorgen, und dennoch werden sie jedesmal verspottet und verleumdet, wenn sie genau das versuchen.

Als Großmacht sind sie es gewohnt, etwas in der Hinterhand zu haben – die Doppelnull; massive Überlegenheit in konventioneller Bewaffnung und nukleare Kampfkraft ohnegleichen. Aber aus ihrer Hinterhand können sie kein Kapital schlagen. Nuklearwaffen gegen eine Nichtnuklearnation anzuwenden, würde als wahnsinniger Genozid angesehen; ihre sämtlichen konventionellen Truppen in einer Region zu konzentrieren, wäre logistisch unmöglich und würde in anderen Weltgegenden gefährliche Lücken klaffen lassen. Ihre Hinterhand verfällt, und sie kommen sich fürchterlich verarscht vor. Plötzlich sieht jeder Zocker, der genug Chips hat, um bei aufeinanderfolgenden Drehungen des Rades große Verluste wegstecken zu können, so aus, als könne er die Bank sprengen. Die Chancen sind nahezu ausgeglichen, und Amerika hat seinen Vigorish verloren. Es beschwert sich bei der ganzen Welt, daß es herumgeschubst wird, und jedermann lacht, wenn er hört, wie der Riese sich beklagt, daß man ihn am Knöchel zwickt. Nächstes Mal, schwört dieser dann, nächstes Mal wird er mit einer Dreifachnull kommen – SDI, Laserstrahlen von Satelliten, was er sich bis dahin halt einfallen läßt; nächstes Mal wird er sich nicht mehr die Hammelbeine langziehen lassen.

Aber »nächstes Mal« ist der Schrei des Spielers, der unwiderruflich verloren hat. Wie der amoklaufende Computer am Ende des Films War Games entdeckt: Der einzige sichere Gewinnzug besteht darin, nicht zu spielen. Vielleicht merken das auch die Amerikaner und entscheiden sich das nächste Mal, gar nicht erst zu spielen. Wer könnte ihnen das verdenken?

Ich muß jetzt los – das Kasino öffnet. Ich bin ziemlich wild darauf, mein neues System auszuprobieren. Wenn es funktioniert, kann es gut sein, daß Prinz Rainier noch vor Ende der Woche meinen Wagen wäscht und mich mit »Sir« anredet.

Paperweight: Literarische Snacks
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