Geh niemals zurück. Diese Worte stehen mir mit Flammenlettern ins Herz geschrieben. Kürzlich bin ich in doppelter Hinsicht zurückgegangen. Vor zwei Jahren bin ich im West End in einem Stück von Simon Gray aufgetreten, das Common Pursuit hieß. Die BBC verfilmt es jetzt, und diese Woche verbringen wir in Cambridge und rufen uns jene güldenen Jahre der Schlaghosen, Koteletten, schulterlangen Haare und dämlichen Westen in Erinnerung.
Ich selber war in Cambridge einige Jahre nach der Ära, die wir wiederbeleben, dennoch alarmierte mich die Erkenntnis, daß die siebziger Jahre, was die Fundus- und Schminkabteilungen der BBC angeht, schon historische Ausstattungsfilme erfordern. Eine Stunde lang dazusitzen und sich komische Einschlagfäden aus Menschenhaar in den Skalp nähen und sich haarsträubende Backenbärte an die Wangen kleben zu lassen, um das abzugeben, was meine Mutter unbedingt »Läuseleitern« nennen muß, mag ja noch angehen, sich jedoch das Gesicht mit einem fremdartigen, durchscheinenden »Hautstraffer« bepinseln zu lassen, das ist zuviel. Es ist erst neun Jahre her, daß ich Student war, ich kann doch seitdem unmöglich solche Runzeln und Falten bekommen haben!
In dem Versuch, mich aufzuheitern, habe ich einen Vormittag damit verbracht, Andrew McCarthy, das amerikanische Mitglied der Schauspielergruppe, durch die Colleges zu führen. Er war lammfromm und bekundete keinerlei Erstaunen, als die Kapelle vom King’s College keine Klimaanlage hatte, oder Abscheu, als die Wren Library über keine Eismaschinen verfügte. Nach einer Stunde oder so fing er allerdings an zu gähnen, also zeigte ich ihm, wie er zum Peterhouse zurückkam, wo wir drehten, und lenkte meine eigenen Schritte in Richtung der Amtswohnung meines alten Freundes und Mentors Donald Trefusis, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft und außerordentlicher Fellow am St Matthew’s College.
Trefusis hatte mich bei den Disciples eingeführt, einer engen, ernsthaften Sodalität von Intellektuellen, sexuellen Häretikern und liberalen Humanisten, die am offenen Kaminfeuer Marshmallows und Ausgaben des ›Spectator‹ rösteten und sich gegenseitig Essays über so gewichtige Themen wie die Ontologie des Fleisches und die Erkennungsmelodie von Jonathan Cohen vorlasen. Donald hatte mich auch für den KGB rekrutiert … oder war es das MI5 gewesen? Er hat es mir nie verraten, und in Cambridge hätte es als taktlos gegolten, wenn ich gefragt hätte. In Cambridge stand man seinem Freund zur Seite, egal welcher es war. Nur menschlichen Bindungen erwies man Loyalität.
Trefusis würde mir erklären können, warum mich ein schwermütiges Gefühl von Depression und Entfremdung beschlich, als ich durch die Courts und Kreuzgänge schlenderte.
Überrascht öffnete der Professor mir die Tür.
»Dann haben Sie Ihren Essay über die Große Reibelautverschiebung also abgeschlossen, junger Mann?«
Ich versicherte ihm, dem sei mitnichten so, vielmehr verfolge ich einige neue Arbeitsthesen, und bat um weitere neun Jahre Verlängerung, die er mir großmütig gewährte.
»Solche Dinge brauchen ihre Zeit«, gab er zu. »Bei meinem Artikel über die diakritischen Zeichen im Slowakischen für die ›Neuen Philologischen Mitteilungen‹ hat allein das Korrekturlesen siebzehn Jahre gedauert. Ich bin allerdings überzeugt, daß sich die Mühe gelohnt hat. Sie kennen den Text natürlich?«
»Wer denn nicht?« erwiderte ich, eine Ausflucht, die er gnädigerweise ignorierte.
»Ach ja!« rief er und rieb sich freudig erregt die Hände. »Mit dem kleinen Aufsatz habe ich ein paar Leute ganz schön aus dem Häuschen gebracht! Man sagt, beim Phonemkongreß in Cornell habe man im vorigen Jahr Exemplare davon öffentlich verbrannt, und ein gewisser Dozent am Londoner Institut für Slawistikstudien soll sich erhängt haben, als er von meiner scharfen Kritik der Ursprungstheorien über die kroatischen Verben der Bewegung vernahm.«
Gemeinsam spazierten wir am Flußufer entlang.
»Wohin ist alles entschwunden, Donald?« fragte ich. »Dies ist nicht mehr das Cambridge, das ich kannte. Die Häuser stehen noch, Sie sind derselbe, doch nimmer …«
Trefusis sah auf den lieblich fließenden Cam hinab, von dem die melancholischen Klänge eines paddelnden Touristen unter einem Gazza®-Hut heraufklangen, der »Just one Cornetto« auf die Melodie von »O sole mio« sang.
»Zweimal kannst du wohl nicht in ein und denselben Fluß steigen«, zitierte er, »denn beständig ist alles im Fließen.«
»Heraklit!« rief ich aus.
»Gesundheit«, sagte er. »Ihr Cambridge stund aus Menschen auf, nicht Stein noch Glas und Ziegel, die Menschen irrn zerstoben nun, nie sehn Sie sie hienieden. Der Zirkus riß die Zelte ab und stahl sich in die Nacht. Auf leerem Anger stehn Sie nun und wundern bange sich, wie schäbig seine Einsamkeit, wo einst pulsiert das Leben.«
»Sie haben recht«, seufzte ich. »Sie haben ja so recht.«
»Natürlich habe ich recht. Und jetzt entledigen Sie mich Ihrer Gesellschaft. Sie stinken nach Sterblichkeit. Ich brauche Sie nicht, um an mein Alter erinnert zu werden, das erledigt schon meine Blase.«
Ich kehrte rechtzeitig zum Drehort zurück, um von der Crew mit neuen Fragen bombardiert zu werden.
»Hat sich ein typischer Student sein Ersttrimesterphoto an die Wand gehängt? Ging man zu Vorlesungen im Talar? Ließ man die Türen offenstehen?«
»Fragt mich nicht«, sagte ich. »Ich bin zum ersten Mal hier.«