Expansion auf den deutschen Markt: Würzburg integriert

Als Pia Beckmann im Mai 2002 überraschend zur Oberbürgermeisterin von Würzburg gewählt wurde, zog die CSU-Politikerin nicht in das Amtszimmer ihres Vorgängers im dritten Stock des Rathauses ein, sondern zwei Stockwerke tiefer – um näher bei den Bürgern zu sein, wie sie sagte. Das war ihr Programm: Bürgernähe. Sie kannte die Probleme der Stadt; seit 1996 saß sie im Stadtrat. Die Kassen waren leer. Würzburg hat keine Industrie und keine großen Unternehmen. Der größte Arbeitgeber ist die Universität. Die Stadt saß auf einem Schuldenberg in zweistelliger Millionenhöhe.

Beckmann war ins Amt gekommen, weil unter ihrem Vorgänger die Einnahmen – vor allem die Gewerbesteuer – weggebrochen waren. In ihrer Amtszeit kamen hausgemachte Probleme dazu: In der Not spekulierten die Stadtwerke mit riskanten Zinsgeschäften und verloren 4,1 Millionen Euro. Die Regierung von Unterfranken verweigerte zwei Jahre lang die Genehmigung des städtischen Haushalts. Beckmann musste eine absolute Haushaltssperre verhängen. Alle Ausgaben kamen auf den Prüfstand, aber der Schuldenabbau ging trotz radikalem Sparkurs nur schleppend voran. Kurzum: Würzburg war der ideale Kandidat für Arvato.

Mit dem Rücken zur Wand suchte die Stadt händeringend nach Konzepten, um die laufenden Kosten zu reduzieren. Die Stadt war offen für Public Private Partnerships (PPP) mit Investoren und Beckmann wurde zur treibenden Kraft hinter der Umstellung auf eine elektronisch vernetzte Verwaltung, auch »E-Government« genannt. Statt mehrfach zwischen Aktendeckeln soll das Wissen der Verwaltung in Dateien zentral gespeichert und jederzeit jedermann in der Verwaltung zur Verfügung stehen. Die Stadt machte eine europaweite Ausschreibung für ihr Projekt – Arvato bot die besten Konditionen und erhielt den Zuschlag. Es sollte ein Vorzeigeprojekt werden. Beckmann und Arvato wollten völlig neue Wege gehen, die sich an den Erfahrungen von East Riding orientierten. Viele Kommunen haben die Müllabfuhr ausgelagert. Beckmann dagegen wollte sich für die gesamte Verwaltung einen privaten Betreiber ins Rathaus holen, der alle Abläufe zentral steuert. Das Projekt heißt »Würzburg integriert«. Der Stadtrat stimmte geschlossen dafür, ohne allerdings die Verträge im Detail zu kennen.

Das Argument, das in Würzburg fast jeden Beamten und Lokalpolitiker schnell überzeugt hat, lautete: Geld. Arvato verpflichtete sich, die Kosten der Investitionen zu übernehmen. Und mehr noch: Arvato stellte der Stadt von Beginn an Einnahmen in Aussicht. Man war guter Dinge in Würzburg, der Projektleiter der Stadtverwaltung, Wolfgang Kleiner, sagte: »Für die Finanzierung des Projektes nimmt die Stadt kein Geld in die Hand.« Würzburg sei aber bereits von Beginn an an den Einsparungen beteiligt. Für die Hilfe bei der Vermarktung des Konzeptes wollte Arvato Würzburg darüber hinaus finanziell entschädigen; je verbreiteter die Plattform sei, desto kostengünstiger werde die Dienstleistung.

2007 einigte Arvato sich mit der Stadt und ein Jahr später begann das Projekt, das Pilotcharakter für weitere Kommunen haben sollte. Arvato steuert seitdem alle Abläufe in der Würzburger Kommunalverwaltung über eine zentrale Internetplattform. Ziel sei es, Bürgern, Unternehmen und Partnern alle Dienstleistungen der Stadt über nur eine Anlaufstelle anzubieten. Würzburg erhoffte sich während der Laufzeit von zunächst zehn Jahren Einsparungen in Höhe von mehr als 27,6 Millionen Euro, indem Personal abgebaut wird: 75 Mitarbeiter, die nach und nach in Ruhestand gehen, werden nicht ersetzt. Mehr als zehn der eingesparten 27,6 Millionen Euro sollen an die Stadt gehen, die Projektkosten belaufen sich auf rund neun Millionen Euro. Arvato bleiben demzufolge mehr als acht Millionen Euro Gewinn.

Aber Arvato geht es in Würzburg nicht um diese acht Millionen. Es steht viel mehr auf dem Spiel: Es geht um die Erschließung eines neuen Marktes, der mittelfristig bis zu einer Milliarde Euro jährlich in die Kassen von Bertelsmann spülen soll. Arvato sieht im Würzburger Projekt einen Einstieg in den deutschen Markt mit öffentlichen Dienstleistungen; dreißig weitere Kommunen seien an einer Zusammenarbeit interessiert, betonte Arvato 2008. Derzeit seien Umsatz und Gewinn aus der Sparte Government Services noch gering, sagt Rolf Buch, der aktuelle Vorstandsvorsitzende von Arvato. Der Bereich verfüge aber über großes Potenzial, da in Deutschland rund 1,5 Millionen Personen in Kommunalverwaltungen arbeiteten. Bei durchschnittlichen Jahreskosten von 70 000 Euro pro Mitarbeiter ergebe sich ein Gesamtvolumen von 105 Milliarden Euro. Experten gingen davon aus, dass man davon rund 20 Prozent outsourcen könne. Der potenzielle Gesamtmarkt belaufe sich also auf 20 Milliarden Euro pro Jahr allein in Deutschland.

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