Das heimliche Bundesbildungsministerium

Reinhard Mohns Versuch, durch das Modell und Beispiel der ersten privaten Universität die gesamte Hochschulpolitik zu reformieren, ist ihm nicht gelungen – zumindest nicht so, wie er sich das gewünscht hatte. Aber Mohn ließ sich davon nicht abhalten und gründete gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) das Centrum für Hochschulpolitik – kurz CHE. Mohn schaffte damit einen Thinktank, der Debatten anregt und in Gang hält und der die Hochschulpolitik mit Rezepten aus dem Ausland verändern sollte wie kaum ein anderes Institut. Das CHE habe wesentlichen Anteil an der Einführung der Studiengebühren sowie an den unternehmerischen Strukturen, die in Form von Hochschulräten an sämtlichen Universitäten des Landes Einzug gehalten haben, sagen Befürworter wie Kritiker. Sie bezeichnen das CHE als heimliches Bildungsministerium und ihren ehemaligen Leiter, Detlef Müller-Böling, als den heimlichen Bildungsminister. Das ist natürlich übertrieben, aber wie so oft, steckt in dem Vergleich auch ein Kern Wahrheit. Das CHE und seine Hochschulpolitik gilt – auch innerhalb der Stiftung – als eines der am längsten währenden, kostengünstigsten und erfolgreichsten Projekte der Bertelsmann Stiftung.

Was ist das Erfolgsgeheimnis? Wie haben Mohn, Müller-Böling und das CHE das geschafft? Müller-Böling sagt dazu im Rückblick: »Man darf Frösche nicht fragen, wenn man ihren Teich trockenlegen will. Hochschulpolitik ist ein vielrädriges Gebilde. Ich habe nie gedacht, dass man mit dreißig Leuten Dinge direkt durchsetzen kann. Wir haben Angebote und neue Ideen in die Debatte gebracht – das schafft Nachfrage. Im CHE standen dreißig Leute 36 000 Professoren und zwei Millionen Studenten an achtzig bis hundert Universitäten und rund 260 Fachhochschulen gegenüber, außerdem 16 Landesministerien mit jeweils 300 Mitarbeitern.«5

Das Geheimnis sei, sich Zugang zu verschaffen, Strukturen aufzubrechen, eine Position zu erkämpfen und natürlich Verbündete zu suchen. Müller-Böling verbündete sich mit der Hochschulrektorenkonferenz. Diese Verbindung sollte Türen öffnen und Wege ebnen. Diese Rechnung, sagt Müller-Böling, sei aufgegangen, beispielsweise bei den Studiengebühren. Wolfgang Lieb, von 1996 bis 2000 Wissenschaftsstaatssekretär in Nordrhein-Westfalen, meint dazu, dass die HRK bei den Studiengebühren eine Kursänderung vollzogen habe und das sei »vor allem darauf zurückzuführen, dass das CHE zu einer Art Schreibtisch für die HRK geworden ist«. Die HRK sei davor eine relativ bedeutungslose Vereinigung gewesen, vor allem auf Bundesebene. Aber die HRK habe dem CHE »ein einigermaßen unverdächtiges Entree in die Hochschulen vor allem über die Hochschulleitungen« verschafft.

Kritiker konfrontieren das CHE immer wieder mit der Frage, was die Bertelsmann Stiftung und das CHE eigentlich dazu legitimiere, die deutsche Hochschulpolitik mit Mohns unternehmerischen Ansatz zu reformieren, und was ihre eigentlichen Interessen seien. Geht es wirklich nur um Effizienz und Wettbewerb unter den Hochschulen? Müller-Bölings Nachfolger Frank Ziegele behauptete: »Das CHE ist unabhängig, es verfolgt keine Interessen. Es ist der einzige Akteur, der keine Interessen verfolgt, der wirklich unabhängig ist. Da Hochschulfragen aufgrund der föderalen Struktur Ländersache sind, sind wir eine Informationsplattform.«6

Die Politik des CHE zieht dennoch immer wieder Proteste von Studenten und Professoren auf sich: Das liegt an den Leistungsvergleichen, den Rankings, aber auch an Vermutungen, dass hinter der Politik der Stiftung doch ein Interesse des Konzerns stehe. Geht es in Wahrheit vielleicht auch um die Privatisierung und unternehmerische Strukturen in den Hochschulen, weil die Bertelsmann AG darin einen künftigen Wachstumsmarkt sieht? An dieser Vermutung sind Stiftung und Unternehmen selbst schuld. So antwortet der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann AG, Hartmut Ostrowski, seit Jahren auf die Frage nach Wachstumsmärkten, das Unternehmen sehe Möglichkeiten im Bereich Bildung. Was er genau plant, ist bislang nicht klar, aber solche Aussagen verunsichern Studenten und Professoren. Eines zumindest steht fest: Durch das CHE und seine Verbindungen hat die Stiftung (und mit ihr das Unternehmen, denn die leitenden Positionen sind ja identisch) unzählige Kontakte zu Hochschulen, Fachleuten, Ministerien und Regierungen sowie Einschätzungen über Trends und Bedürfnisse. Die Stiftung und ihr CHE haben sich Zugang und Kompetenz erarbeitet. Doch wie kam es überhaupt zu dem großen Einfluss der Stiftung auf diesen Bereich?

 

1993 brauchte der Rektor der Universität Dortmund, Detlef Müller-Böling, Geld. Deshalb wendete er sich an Reinhard Mohn und schrieb ihm, dass er gerne eine neue Ordnung an seiner Universität einführen würde, nach der nicht mehr gemäß alter Machtstrukturen Geld verteilt werden sollte, sondern nach Leistung. Müller-Böling ist Betriebswirt und Leistungsvergleiche sind sein Fachgebiet. Er hatte gelesen, dass Mohn in der Stiftung Leistung mit Kennziffern misst, und glaubte, dass er mit seiner Idee Mohn überzeugen könnte, ihm Geld zu geben. Er wusste nicht, dass Mohn prinzipiell kein Geld verteilte, sondern dass er sein Geld für seine Interessen einsetzte. Aber Mohn fand dennoch Gefallen an seinem Gedanken und wollte ihn kennen lernen. Bald darauf erhielt Müller-Böling eine Einladung.

Am 31. August 1993 trafen sich in Gütersloh »die Player der Hochschulpolitik«, wie Müller-Böling sie nennt. Das waren Vertreter vom Wissenschaftsrat, der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Hans-Uwe Erichsen, sowie Konrad Schily und weitere Vertreter der Privatuni Witten/Herdecke. Mohn stellte bei dem Treffen fest, dass die Hochschulen reformiert werden sollten, und fragte in die Runde: »Glauben Sie, dass die Bertelsmann Stiftung sich engagieren und für eine Million Mark jährlich ein Institut gründen soll?« Am Ende bat Mohn die Anwesenden, ihm zu schreiben, wie es weitergehen solle. Müller-Böling schrieb ihm, dass er das Institut für eine gute Idee halte.

Mohn fand, dass Müller-Böling der richtige Mann für ihn sei. Im selben Jahr fuhr Müller-Böling noch drei Mal nach Gütersloh und sprach mit Mohn über einen Businessplan und darüber, wie man die HRK einbinden könnte – auch HRK-Präsident Erichsen war schließlich bei einer Besprechung mit dabei. Mohn wollte am liebsten sofort loslegen. Ihm ging alles zu langsam. Es gab von Beginn an zwei wichtige Übereinstimmungen: Zum einen sprach Mohn von Betriebsvergleichen und Müller-Böling von Rankings, zum anderen Mohn vom Delegieren und Müller-Böling von Autonomie. An der Universität hatte Müller-Böling erfahren, dass niemand entscheiden konnte oder wollte. Nun hatte er das für ihn »wunderbare Erlebnis«, dass hier einer sofort entscheidet, nach Ergebnissen fragt und das Geld dafür zur Verfügung stellt. Das CHE war für Müller-Böling bereits ein Erfolgserlebnis, noch bevor es das Institut gab. Er glaubte an seine Aufgabe.

Seine Zeit als Rektor der Universität Dortmund von 1990 bis 1994 hatte Müller-Böling als eine »Phase des Stillstands« erlebt – so wie die gesamten achtziger Jahre. Um einen Studiengang zu reformieren, brauche man zehn Jahre und danach sei man verschlissen, sagt er. Gremien und Rahmenprüfungsordnungen machten ihm zu schaffen. Das CHE bedeutete für ihn ganz persönlich eine Befreiung – eine Entfesselung. Das Konzept der entfesselten Hochschule, das er als sein Programm mit nach Gütersloh brachte, war für ihn viel mehr als nur ein Hochschulprogramm. Dahinter stand seine Lebensphilosophie, die sich mit der Philosophie Mohns kreuzte: Unabhängigkeit. Nur übersahen beide, dass ihre Unabhängigkeit andere in Abhängigkeit führte. Aber das störte Müller-Böling genauso wenig wie Reinhard Mohn.

Am 1. Mai 1994 nahm Müller-Böling seine Arbeit auf. Zunächst war das CHE im Gebäude der Stiftung untergebracht. Vom ersten Tag an ging es um die Frage, wie ein Leistungsvergleich aussehen kann. Das Ranking war auch ein Wunsch von Erichsen, dem Präsidenten der HRK. Neun Monate später stellte sich das CHE der Öffentlichkeit vor. Als Reinhard Mohn im Januar 1995 in der Stadthalle in Gütersloh 300 Gäste zur ersten großen Konferenz des CHE begrüßte, sprach er von einem »Prozess, der in unserem Lande – Gott sei Dank – jetzt immer mehr gefragt wird und in Gang kommt«. Es ist allerdings ein Prozess, den er selbst maßgeblich in Gang gesetzt hat und dessen Ergebnis er schon Jahre davor definiert und festgelegt hatte.

Hans-Uwe Erichsen, der Präsident der HRK, forderte auf der Konferenz mehr Wettbewerb unter den Hochschulen. Dazu sei ein »Raster von Indikatoren« notwendig, damit man Hochschulen vergleichen könne. Er nannte »diese Aktivitäten« nicht Ranking, sondern Datenkranz. Da die HRK »von ihrer Personal- und Sachausstattung nicht in der Lage [sei], das Profilbildungsprojekt für die Breite der Hochschulen und Fächer flächendeckend fortzusetzen«, habe man gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung das CHE gegründet. Erichsen betonte noch einmal den Charakter des CHE als »zugleich staats- und hochschulferne Einrichtung«. Das alles böte gute Voraussetzungen. Es klang, als würde er sich dafür entschuldigen.

Detlef Müller-Böling erläuterte sein Programm, das sich an Mohns Soll-Modell orientierte. Es ist das Modell einer »wettbewerblichen Hochschule und einer Hochschule im Wettbewerb«, wie er sagte. Neu sei aber, dass Wettbewerb nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Lehre stattfinden solle, und neu sei der Wettbewerb um Studienanfänger. Müller-Böling äußerte sich auch zur Finanzierung. Klar sei, dass die deutsche Hochschule wie bisher eine staatliche, »zumindest eine (überwiegend) staatlich finanzierte Hochschule« sein werde. Aber die Finanzierung müsse auf eine »neue Basis« gestellt werden. Es gehe dabei weniger um die Erschließung neuer Finanzquellen als um eine wettbewerbliche Steuerung der Hochschulen über ihre Finanzierungsmodelle.

Ganz im Sinne Mohns sagte Müller-Böling, die Finanzierung müsse sich aus staatlichen Zuweisungen, Drittmitteln und Gebühren für (nicht von!) Studenten zusammensetzen. Müller-Böling nahm somit den Vorschlag eines Gutscheinsystems von Professor Simon aus dem Jahr 1990 auf.

Des Weiteren folgten auf der Konferenz Workshops und Beispiele aus der Schweiz, aus Schweden, Großbritannien, den Niederlanden, aus Belgien, Frankreich, Polen und aus den USA. Fast immer ging es um die Frage, wie Lehre und Leistungen bewertet und gemessen werden können. Es herrschte die Sprache der Wirtschaft: Die Rede ist von »Transparenz, Evaluation, Qualitätssicherung« in der Lehre und von »Erfolgskontrolle« in der Forschung. Müller-Böling schloss die Gründungsveranstaltung mit dem Versprechen, das CHE werde konkrete Vorschläge machen und sie »mit den Ministerien, gegebenenfalls in Modellversuchen, erproben«.

Bertelsmannrepublik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik
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