Ein Gutachten zur Rundfunkordnung mit Sprengkraft

Am 15. Januar 1999 trafen sich auf Einladung der Bertelsmann Stiftung und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit auf Schloss Eckberg bei Dresden die Intendanten von ARD und ZDF, sowie die Chefs von RTL, Sat1 und Pro Sieben, außerdem Medienkonzern-Herren und zwei Ministerpräsidenten. Sie sprachen über die Zukunft des Rundfunks in Deutschland. Der Freiburger Rechtsprofessor Martin Bullinger präsentierte »ein Gutachten, dem zur Sprengladung nur noch die Lunte fehlt«, wie der Focus schrieb: Das 119-seitige Dokument mit dem Titel Die Aufgaben des öffentlichen Rundfunks wurde von der Bertelsmann Stiftung finanziert und beauftragt und es kommt einer Neudefinition des dualen Rundfunksystems gleich. Weil ARD und ZDF sich »um des Markterfolgs willen« an die private Konkurrenz anpassten und Programme für kulturelle Minderheiteninteressen in die Nachtstunden oder in Nebenprogramme geschoben werden, müsse die Politik dringend handeln. Man dürfe nicht warten, »ob die Öffentlich-Rechtlichen auf Dauer Leistungen erbringen, die ihrem Funktionsauftrag besser entsprechen als die Leistungen werbefinanzierter Anbieter«, forderte Bullinger. Er verlangte von ARD und ZDF sogar, »auch am Vorabend und Abend einen angemessenen Anteil kultureller Sendungen vorzusehen«. Außerdem müsse verhindert werden, dass der Zuschauer mit seinen Gebühren Programme bezahlt, die gar nicht »funktionsnotwendig« seien.

Bullinger wollte den Begriff der Grundversorgung durch den Begriff Funktionsauftrag ersetzen. Das soll laut Bullinger zur Folge haben, dass ARD und ZDF – statt sich dem Quotendruck zu beugen – zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen, allen Stimmen der Gesellschaft ein Forum bieten, mit hohen Qualitätsstandards eine Vorbildfunktion erfüllen und Sendungen zeigen, die unter rein kommerziellen Gesichtspunkten nicht angeboten werden würden. Diesem Auftrag dienen, so der Jurist, vor allem Sendungen, »die einem gesteigerten öffentlichen Interesse entsprechen«, etwa »Nachrichten, Informationen, Jugend- und Kultursendungen«. »Grundversorgung« sehe dagegen – wesentlich unpräziser – die allgemeine Empfangbarkeit von Sendungen vor; Meinungsvielfalt und Meinungsbildung sollen gewährleistet sein.

Zwar betonte Bullinger die Notwendigkeit des öffentlich-rechtlichen Systems und rüttelte nicht an den Urteilen zur Bestands- und Entwicklungsgarantie. In der letzten Konsequenz könnte die Folgerung aus dem Gutachten jedoch lauten: Aspekte und der Kulturweltspiegel laufen bei den Öffentlich-Rechtlichen um 20.15 Uhr, während ein Millionenpublikum bei den Privaten eine große Show oder ein Fußball-Europapokalspiel anschaut – mit entsprechend höheren Werbeeinnahmen als Konsequenz, wie der Focus analysierte. Das Misstrauen speziell von Intendanten der ARD gegen Bullingers Papier äußerte sich in »freundlichem bis ruppigem Protest«, und wie ein Teilnehmer zusammenfasste: »Wir sollen uns auf Anspruchsvolles, Schönes und Gutes beschränken, während die anderen das mehrheitsfähige Programm machen.« Der ARD-Vorsitzende Peter Voß (SWR) beklagte: »Wenn die Öffentlich-Rechtlichen nur das tun können, was die Privaten nicht tun, dann werden die Privaten unsere Programmdirektoren. Dem werden wir nicht zustimmen.«

Einst wollte Reinhard Mohn vom ZDF direkt wirtschaftlich profitiereren. Der direkte Einstieg in den Fernsehmarkt blieb Mohn jedoch verwehrt, weil die Bundesländer das ZDF gründeten. Mohn sah – angeblich angetrieben durch seinen Generalbevollmächtigten Manfred Köhnlechner – dennoch einen neuen Absatzmarkt. Er wollte das ZDF überreden, dass es keine eigene Produktion benötigt – weil Mohn diese Rolle übernehmen würde. So erinnert sich Edzard Reuter, der spätere Chef von Daimler, den Mohn dazu Anfang 1962 anheuerte. Reuter sollte ein sogenanntes Verlegerfernsehen aufbauen. Als das ZDF eigene Studios baute, verabschiedete Mohn sich über Nacht von dieser Idee, ohne es Reuter zu sagen. Der ahnungslose Reuter leitete ein Jahr lang in München eine Redaktion der Bertelsmann Fernsehproduktion GmbH.

Was so hoffnungsvoll begann, endete vor dem Arbeitsgericht, weil Reuter dachte, Mohn hätte ihm eine Lebensanstellung versprochen (was dieser dementierte). Mohn und Köhnlechner traten im Streit um eine Abfindung vor Gericht als Zeugen auf, erinnert sich Reuter. Angesichts seiner Erfahrung zweifelt er an Mohns Führungsprinzip der Übertragung von Verantwortung. Reuter hat die Kehrseite gesehen und bilanziert, dass es zwiespältig sei, sich mit Privatunternehmern einzulassen. »Sie sind ihr eigener Herr auch in dem Sinne, dass sie aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen von einem Tag zum anderen ihre Meinung ändern können. Verlässlichkeit als Grundlage für gegenseitiges Vertrauen zählt dann wenig.« Die Großartigkeit von Mohns unternehmerischem Lebenswerk sei »unbestreitbar, doch nicht wenige haben dafür bezahlen müssen.«4

Nun sollte also Bullinger mit seinem Gutachten dafür sorgen, dass ARD und ZDF einen Teil ihrer Einnahmen mit Bertelsmann teilen müssen. Ernst Gottfried Mahrenholz verfasste eine Entgegnung auf Bullinger und wehrte sich vor allem gegen dessen Folgerung, wenn ARD und ZDF ihren »Auftrag nicht erfüllen, so müsste politisch neu entschieden werden, wie seine Aufgaben in Zukunft neu organisiert werden können«. Mahrenholz schrieb: »Jedes publizistische Instrument kann seine Aufgaben gut oder weniger gut erfüllen, und da gibt es Differenzen jeden Tag. Aber jedenfalls erfüllt die Publizistik – welcher Teil auch immer – ihre Aufgaben jeden Tag! Für die Medien gibt es keine Aufgaben, die zu irgendeinem Zeitpunkt ›erfüllt sind‹ oder nicht. Diese Theorie des Abschaffens des öffentlich-rechtlichen Systems verfehlt – von weiteren Einwänden abgesehen – meines Erachtens schon im Ansatz das Essentielle der Publizistik.«5

Norbert Schneider, der Vorsitzende der Landesmedienanstalten, kritisierte ein weiteres Gutachten, das im Auftrag der Bertelsmann Stiftung von Mitarbeitern einer Unternehmensberatung erstellt worden war. Dieses Gutachten sah ebenfalls die »Aufsicht auf dem Prüfstand« und kritisierte die Zahl der Anstalten, ihren Bürokratismus und ihr Budget. Der Hauptgedanke des Gutachtens: Die Aufsicht be- und verhindere privaten Rundfunk. Es sei, so beklagte Schneider, »eine Mischung aus undeutlicher Situationsbeschreibung und Vorurteilen«. Er merkte ironisch an: »Aversionen gegen Medienaufsicht schlechthin, wenn sie von einem Betroffenen kommen, sind nachvollziehbar. Sie können jedoch nicht Belege für angebliches Fehlverhalten oder Fehlentwicklungen ersetzen. Die zweifellos nicht unkompliziert organisierte Medienaufsicht in Deutschland funktioniert gleichwohl ausgezeichnet.« Die Medienanstalten hätten Anspruch auf sachliche Kritik, die auf der Basis von Fakten geäußert werde. Er stellt Mohns Prinzip infrage, für jedes Problem im Ausland nach Lösungen zu suchen. »Solange Rundfunk in Deutschland Ländersache ist, läuft jeder Vergleich mit Ländern, die diese Prämisse nicht haben oder kennen, partiell ins Leere.«6

Schneider fasste zusammen: »Womit wir nicht umgehen können und wollen, ist eine Phantomdiskussion. Was nicht weiterhilft, ist eine Beschreibung der Situation, die einem Vorurteil folgt und nicht der Realität.« In einer Stellungnahme schrieb er: »Wir würden es begrüßen, wenn die bei uns von außen erkannten Schwächen so belegt würden, dass man sie auch innen sehen könnte, damit wir uns konkret damit befassen können. Vorhaltungen wie ›Ihr seid zu viele‹ und ›es geht zu lange‹ und ›Ihr seid Bürokraten‹ und ›Ihr bildet Wasserköpfe‹ und ›Ihr werft Geld zum Fenster raus‹ halten wir, auch wenn sie sich hinter vornehmen Formulierungen verstecken, nicht für eine seriöse Grundlage, um Reformen ins Auge zu fassen.« Reform um ihrer selbst Willen sei Beschäftigungstherapie. »Dazu haben wir alle zu viel echte und sinnvolle Arbeit zu erledigen.«7

Wolfgang Clement kam der Bertelsmann Stiftung zu Hilfe und betonte, die Initiative der Bertelsmann Stiftung sei wichtig, weil es Aufgabe der Politik sei, die Gewichte im dualen System auszutarieren. Zudem zeige sich, dass die Expansion der Öffentlich-Rechtlichen »potenziell Arbeitsplätze im privaten System gefährdet«. So habe der öffentlich-rechtliche Kinderkanal zur Einstellung des privaten Kindersenders Nickelodeon geführt. Clement forderte: »Für alle öffentlich-rechtlichen Institutionen in Deutschland gilt: Sie müssen auf den Prüfstand. Sie können nicht so bleiben, wie sie sind. Sie müssen sich ständig fortentwickeln und reformieren, um noch effizienter, schlanker und kundenfreundlicher zu werden.«8 Dabei gehe es um eine Umkehr der Beweislast. »Während sich früher der rechtfertigen musste, der eine Reform von Strukturen forderte, muss sich heute der rechtfertigen, der für die Beibehaltung des Bestehenden eintritt.« Clement ging mit seiner Argumentation also ins Grundsätzliche und man kann seine Worte auch als grundsätzliche Rechtfertigung der Arbeit der Bertelsmann Stiftung verstehen.

Bertelsmannrepublik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik
titlepage.xhtml
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_000.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_001.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_002.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_003.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_004.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_005.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_006.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_007.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_008.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_009.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_010.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_011.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_012.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_013.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_014.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_015.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_016.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_017.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_018.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_019.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_020.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_021.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_022.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_023.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_024.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_025.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_026.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_027.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_028.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_029.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_030.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_031.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_032.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_033.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_034.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_035.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_036.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_037.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_038.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_039.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_040.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_041.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_042.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_043.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_044.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_045.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_046.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_047.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_048.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_049.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_050.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_051.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_052.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_053.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_054.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_055.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_056.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_057.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_058.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_059.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_060.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_061.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_062.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_063.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_064.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_065.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_066.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_067.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_068.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_069.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_070.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_071.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_072.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_073.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_074.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_075.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_076.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_077.html
Bertelsmannrepublik_Deutschland_split_078.html