Die Ära Schröder: Die Bertelsmann Stiftung mächtiger als je zuvor

Die Politik hatte Herzogs Ruck-Aufruf aufgegriffen. Der Kanzlerkandidat Gerhard Schröder hat ein Jahr nach Herzogs Rede im Mai 1997 im Spiegel einen Aufsatz veröffentlicht, welcher fast wie ein Plagiat wirkte. Er ist ähnlich aufgebaut und mündet in ähnlichen Schlussfolgerungen. Schröder schrieb: »Der Bundespräsident hat recht. Er warnt vor der Regelungswut der Bürokratie und vor einer Selbstblockade der politischen Institutionen hierzulande. Wir haben zweifellos Innovationskompetenz, aber unser Problem ist der Umsetzungsstau.«20 Der Text könnte von Herzog stammen – oder von der Bertelsmann Stiftung. Hätte er mehr Ausrufezeichen, könnte ihn auch Mohn geschrieben haben. Schröder beklagt: »Statt eines Aufbruchs nach vorne leisten wir uns den Luxus der Langsamkeit.« Es gelte, »die zentralen Reformideen und mobilisierende technologische Leitprojekte aus diesem Gestrüpp herauszuziehen, sie über das Gezänk und den Technikskeptizismus der Interessengruppen zu erheben ist den Konservativen nicht gelungen. Auch hier hat Roman Herzog recht: Es mangelt an der Fähigkeit der Eliten, das als richtig Erkannte durchzukämpfen, sich notfalls dafür verprügeln zu lassen. ›Leadership‹ nennt man das in Amerika.«

Schröder fordert »die Entwicklung neuer Berufe für neuen Bedarf, neue Formen der Arbeitsorganisation und des Managements, flexible Arbeitszeiten. Denn nicht die Globalisierung ist das Problem, sondern der zähe Diskurs darüber.« Und: »Modernisierung der Wirtschaft heißt auch Modernisierung des Staates.« Und natürlich gehörten die Hochschulen reformiert. Der Kanzlerkandidat gibt sich kämpferisch: »Politik hat zu steuern, nicht zu rudern, Resultate zu fördern statt Regeln vorzugeben. Die Entscheidungsprozesse müssen einer Wettbewerbssteuerung unterworfen werden, denn die Glaubwürdigkeit jeder Innovationsoffensive hängt davon ab, ob der Staat und die Parteien den Ansprüchen, die sie an andere stellen, selbst gerecht werden.«21

Schröder und die Stiftung kamen sich in dieser Zeit näher. Wössner sprach sich öffentlich für Gerhard Schröder als Kanzler aus. Mit ihm würde er gerne die Reformpolitik der Stiftung umsetzen. Wie in der Regierung fand im Oktober 1998 auch in Gütersloh ein Machtwechsel statt. Am 14. Oktober 1998 feierte Mark Wössner auf einem Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer mit seiner Frau und seinen beiden Kindern seinen 60. Geburtstag. Nach den strengen Bertelsmann-Regeln war damit sein Abschied gekommen. Zu Hause in Gütersloh erinnerte Bertelsmann Ende Oktober 1998 an die Verdienste von Wössner mit einem dreitägigen Kongress, zu dem man 500 Führungskräfte des Hauses aus allen Kontinenten in die Stadthalle geladen hat. Höhepunkt der Veranstaltung war am 30. Oktober seine Verabschiedung in einer umgebauten Fabrikhalle, der größten in der Stadt. Es ist zugleich die Amtseinführung von Thomas Middelhoff. Wössner war fast so lange Chef bei Bertelsmann wie Kohl Bundeskanzler war. Nun wechselte Wössner an die Spitze der Stiftung. Er wollte Deutschland verändern, so wie Mohn es immer proklamiert hat. Wössner hatte ihn damals manchmal insgeheim belächelt. Nun hat er das Sagen – zumindest ging er davon aus.

Für seine neue Position zog er nur ein paar Meter über den Hof, der zwischen beiden Gebäuden – der Hauptverwaltung, in der das Management sitzt, und der Stiftung gegenüber – liegt. Von Bertelsmann zu Klein-Bertelsmann, wie die Stiftung manchmal genannt wird. Inhaltlich jedoch war es ein großer Schritt. Statt für ein Unternehmen, das sich auf Medien spezialisiert hat, ist er nun für Deutschland und die ganze Welt zuständig. Rein theoretisch für alles; geografisch oder inhaltlich gibt es keine Grenzen. Umso vielsagender sind die Personen und die Themen, die die Stiftung auswählt.

Die Zeiten konnten nicht besser sein für Wössners Wechsel, denn auch in Berlin trat ein neuer Mann an, das Land zu verändern. Gerhard Schröders Kanzlerschaft, das kann man heute im Rückblick so sagen, markierte eine neue Ära, eine neue Blüte für die Bertelsmann Stiftung. Nie wurde sie so sehr gebraucht und so einflussreich und mächtig wie in Schröders Regierungszeit. Als wollten sie Wössner ihre Bereitschaft für eine neue Qualität der Zusammenarbeit demonstrieren, ließen sich der frisch gewählte Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer mit dem Hubschrauber nach Gütersloh zur Feierlichkeit einfliegen und mischten sich unter die illustren Gäste, darunter Franz Beckenbauer, der Präsident des Fußballclubs Bayern München, wie Repräsentanten der Weltbank und des Club of Rome.

Über Wössner hörten sie nur sehr Gutes. Sein Stellvertreter Schulte-Hillen sagte in seiner Rede: »Mark, du bist ein Teufelskerl. Du kannst in allen Sätteln reiten. Du hast eine tiefe Furche gezogen.« Wössner übergab seinem Nachfolger eine Ledermappe mit den Leitlinien des Unternehmens. »Alles, was in dieser Mappe ist, wird die nächste Generation umsetzen«, versprach Middelhoff und umarmte seinen Vorgänger. Die Laudatoren versicherten, wie angenehm es sei, einen Mann zu loben, ohne lügen zu müssen. Und Wössner beruhigte die Lobhudler selbstbewusst, das meiste sei »gar nicht gelogen«. Der Pianist Gerhard Oppitz spielte Franz Liszt und Udo Jürgens, wie Wössner seit dreißig Jahren bei Bertelsmann (als vertragsgebundener Künstler) sang »Du und ich – wir passen wirklich gut in dieses ehrenwerte Haus«. Er habe die Abschiedsempfänge von einem Kanzler und zwei Bundespräsidenten erlebt, erzählte Jürgens. Verglichen mit dieser Feier seien sie provinziell gewesen. Die Botschaft: Gütersloh und Bertelsmann sind alles andere als provinziell. Sie sind bereit für Berlin.

Im Nachhinein markiert Wössners Abgang aus dem Unternehmen kein Ende, sondern einen Anfang, einen Aufbruch. »Von hier und heute geht eine neue Zeitrechnung aus«, sagte Wössner im Beisein von Kanzler Schröder und seinem Vize Fischer.22 Auch Fischers Vorgänger Klaus Kinkel sowie Helmut Kohls Nachfolger im Parteivorsitz, Wolfgang Schäuble, waren gekommen. Die Politik suchte den Kontakt zu Bertelsmann. Bundeskanzler Gerhard Schröder saß neben Reinhard Mohn und hielt ein Grußwort. »Das Land wäre ohne die gemeinsinnorientierte Politikberatung der Bertelsmann Stiftung ärmer«, sagte der neue Kanzler. Zusammen mit der Stiftung würde er das Land um zahlreiche Reformen und Initiativen bereichern.

Bertelsmannrepublik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik
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