VOX – Ein neuer Sender für die Info-Elite

Man mag sich gefragt haben, wieso Reinhard Mohn die hehren Ansprüche, die die Kommision an das Fernsehen stellte, nicht direkt bei seinem Sender durchsetzte. Genau das versuchte Reinhard Mohn 1993 tatsächlich. Er wollte Qualität im privaten Rundfunk einführen – allerdings nicht bei RTL, sondern bei einem neuen Sender, den er eigens dazu gründete: VOX. Bertelsmann hatte ehrgeizige Pläne. Für VOX war im Vorstand der Bertelsmann AG der ehemalige SPD-Bundesminister Manfred Lahnstein zuständig, den Wössner ins Unternehmen geholt hatte. Lahnstein war 1982 Minister für Finanzen und für Wirtschaft gewesen und war nun bei Bertelsmann für elektronische Medien zuständig.

Lahnstein hatte einen Verbündeten in seinem Parteifreund Wolfgang Clement, dem Staatskanzleiminister der regierenden SPD in NRW. Clement wollte sein Bundesland zum Medienstandort ausbauen. Der gelernte Journalist hatte zeitweise als Chefredakteur für die Hamburger Morgenpost, ein Boulevardblatt des Verlags Gruner + Jahr, gearbeitet. Mohn war damals sein oberster Chef. Arbeitete er nun an anderer Stelle zum Nutzen der Bertelsmann AG? Manchmal drängte sich beim Aufbau des Fernsehsenders VOX dieser Eindruck geradezu auf, beispielsweise als die SPD mit der Landtagsmehrheit dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) zugunsten von VOX einfach zwei wichtige TV-Frequenzen wegnahm, um einen technisch optimalen Empfang im bevölkerungsreichsten Bundesland für VOX zu sichern.

Die landeseigene Westdeutsche Landesbank engagierte sich finanziell. Außerdem beteiligten sich die Stadtwerke Köln und eine Reihe von Sparkassen, bei denen Genossen der SPD bestimmten oder zumindest kräftig mitredeten. Der Anteil dieser Gesellschafter betrug anfänglich mehr als ein Drittel des eingesetzten Kapitals. Die unternehmerische Führung überließen sie Bertelsmann. Immerhin hatte Bertelsmann Erfahrung mit RTL. Das, so hofften die Partner, sei eine Erfolgsgarantie. Ambitionierte Polit- und Kulturmagazine sollte der Filmemacher Alexander Kluge beisteuern.

Mark Wössner sagte später, er habe an dem Tag, an dem er den Senderchef Ruprecht Eser getroffen habe, gewusst, dass VOX scheitern werde. Eser sei einfach der falsche Mann gewesen, um den Sender aufzubauen. Wössner wollte Esers Einstellung noch verhindern, aber Lahnstein hatte ihm bereits das Wort gegeben und er konnte oder wollte die Zusage nicht zurücknehmen. Mag sein, dass Eser überfordert war, Lahnstein war es auch und nach dem Scheitern von VOX musste er den Vorstand von Bertelsmann verlassen. Wössner und Mohn schoben ihn 1994 in den Aufsichtsrat ab. Wössners damalige Einschätzung ist bemerkenswert, weil sie spätere Schuldzuweisungen an Partnern, Politik und Aufsicht relativiert. Wenn Fehler in der Führung für das Scheitern verantwortlich waren, konnte jedenfalls nicht – so wie es später getan wurde – der Medienaufsicht die Schuld gegeben werden.

Am 25. Januar 1993 nahm der neue Fernsehsender den Betrieb auf. Um 17 Uhr begrüßte Programmdirektor Ruprecht Eser die Zuschauer mit den Worten: »Guten Abend. Wir sind die Neuen auf Ihrem Bildschirm. Wir heißen VOX. Das ist lateinisch und heißt ›Die Stimme‹. Sie kommt aus Köln, da ist VOX zu Hause.« Privatfernsehen war damals, 1993, fast zehn Jahre alt. RTL hatte 1984 zu senden begonnen. Nun wollten die Eigentümer, Bertelsmann und die luxemburgische CLT, die zweite Stufe des Zeitalter des Privatfernsehens einläuten: Sie nannten es »Ereignisfernsehen«. Privatfernsehen war nicht Neues. Neu war Privatfernsehen, das anspruchsvoll ist, das nicht nur halbnackte Tänzerinnen und Fußball sendete, sondern seriöse Information, Reportagen aus Kultur und Gesellschaft erfrischend, unterhaltsam und mit Ironie präsentiert, eben erkennbar anders, neuer und zeitgemäßer als bei den Öffentlich-Rechtlichen.

Bertelsmann und der Hauptkonkurrent, die Kirch-Gruppe in München, kämpften um Marktanteile. Es herrschte ein Verdrängungswettbewerb. RTL sendete für Zuschauer mit einfachem Geschmack. VOX sollte nun auch Zuschauer gewinnen, die Privatfernsehen für zu dumm, einfalls- und niveaulos hielten. Die Spielfilmsender von Kirch ließen sich nicht einfach aus dem Markt drängen, also wollte Bertelsmann das Stammpublikum der Öffentlich-Rechtlichen gewinnen. Spiegel und Stern sendeten auf RTL; Süddeutsche Zeitung und Die Zeit sendeten nun auf VOX. Mit »journalistisch geprägter Unterhaltung« – also Magazinen, Reportagen und Nachrichten – hatten die Verantwortlichen die Zuschauer anvisiert, denen ARD und ZDF zu betulich und RTL und Sat 1 zu unseriös war. Der Werbewirtschaft versprach Vox eine kaufkräftige »Info-Elite«.

Doch irgendetwas lief schief. Ein knappes Jahr nach dem Start galt VOX als gescheitert. Ulf Brychcy schrieb in der Süddeutschen Zeitung: »Das Publikum wollte das Programm partout nicht einschalten. Die meisten Magazin-Sendungen galten als zu unausgegoren, die Nachrichten waren zwar meist besser als bei der privaten Konkurrenz, aber schlechter als bei ARD und ZDF, das Sendeschema präsentierte sich zu unübersichtlich. Kurz: Die Macher verstanden es nicht, mit einem klaren Konzept ein durchaus verlockendes Marktsegment erst zu schaffen, um es dann zu besetzen. Auch der abrupte und kostspielige Programmwechsel im Sommer 1993 – der mehr Spielfilme, mehr Serien, mehr Sport, aber nur geringen Zuschauerzuwachs brachte – konnte nicht die entscheidende Frage beantworten: ›Warum VOX anschauen?‹«

Das Scheitern von VOX kam den Betreibern teuer zu stehen: Bertelsmann, Süddeutscher Verlag, Westdeutsche Landesbank und einige weitere Mitgesellschafter mussten fast 400 Millionen Mark abschreiben. Am Ende stritten sie sich vor Gericht und forderten Geld zurück. Vor allem die nordrhein-westfälische Regierungspartei SPD hatte den Sender einst nach Kräften gefördert. »Doch auch eine noch so umfangreiche politische Hilfe kann nicht die Regeln des Marktes außer Kraft setzen«, bilanzierte Klaus Ott in der Süddeutschen Zeitung. »Und politisch gesteuerte oder beeinflusste Unternehmen taugen nicht als Betreiber von TV-Kanälen oder überhaupt von Medienunternehmen.«

Wössner und Mohn fühlten sich in ihrem Drang zur Expansion und zum Ausbau des Privatfernsehens in Deutschland von der Medienaufsicht behindert, weil sie nicht nach Belieben schalten konnten, sondern zur Zusammenarbeit mit Partnern gezwungen waren. Wer war schuld am Scheitern von VOX? In Gütersloh fühlte man sich vom Süddeutschen Verlag und anderen im Stich gelassen, vor allem aber von der Medienaufsicht. Hatte man nicht Gutes im Sinn? Im Gegensatz zu Kirch wollte man doch anspruchsvolles Fernsehen produzieren. Warum sahen die zuständigen Aufsichtsbehörden das nicht? Warum zwangen sie Bertelsmann dann zur Kooperation mit Unternehmen, die langen Atem vermissen ließen und Verluste nicht lange genug hinnahmen, um das Gute zur Blüte zu bringen? In Gütersloh sah man sich durch eine weltfremde Konzentrationsregelung gefesselt und war verstimmt.

Damit nicht genug. Man sah sich einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gegenüber, der expandierte und mit seinen Sendern 3sat, Arte und Jahre später mit Phoenix ein Programm bot, das in seinen besten Sendungen etwas sehr Ähnliches sendete, was VOX senden wollte. Wie aber sollte ein Unternehmen in einem gesättigten Markt expandieren und Geld verdienen? Bertelsmann fühlte sich abgedrängt und sah als eigentlich Schuldigen des Debakels um VOX die unflexible Aufsicht, die Qualität verhindere.

Bertelsmannrepublik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik
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