Die Stiftung entwickelt ein Soll-Modell für Hochschulen

Die Reform der Hochschulpolitik ist eines der ersten Themen, dem Mohn mit seinem Carl Bertelsmann-Preis Aufmerksamkeit verschaffen wollte. Im Mai 1990 lud er dazu Fachleute aus dem In- und Ausland zu einem Symposium über »Evolution im Hochschulbereich« nach Gütersloh ein und präsentierte dort seine Vorstellungen, wie Hochschulpolitik in Deutschland seines Erachtens funktionieren sollte.

Er hatte dafür Mitarbeiter monatelang an einem Konzept arbeiten und nach Beispielen suchen lassen. Stefan Empter, der die Recherchen für den Carl Bertelsmann-Preis leitete, hatte dafür wie immer in die USA geblickt und dort nach Vorbildern und Lösungen gesucht. Bei diesen Recherchen geschah jedoch etwas Ungewöhnliches, wie Mohn bei der Preisvergabe berichtete: Er musste erkennen, dass ihn ein Vergleich mit den USA diesmal nicht weiterbrachte, da die kulturellen und finanziellen Unterschiede einfach zu groß und nicht vergleichbar seien. Deshalb beschränkte die Stiftung sich auf Europa, vor allem auf Großbritannien und auf skandinavische Länder wie Norwegen. Die Stiftung suchte allerdings nicht nach Lösungen und erstellte dann das Soll-Modell, sondern sie erstellte – wie Mohn selbst sagte – zuerst das Modell, so wie Mohn sich eine gute Universität vorstellte, und bewertete dann sechzig Universitäten in Europa, um jene zu finden, der er seinen Preis verleihen und mit deren Beispiel er sein Modell der Öffentlichkeit als das richtige vorstellen konnte.

Er wollte der Öffentlichkeit die »beste« Universität präsentieren, allerdings merkte er im Laufe der Recherchen, dass auch das nicht möglich gewesen sei, weil die Universität stets ein Kind der Hochschulpolitik sei und beides sich deshalb gegenseitig bedingt. Deshalb teilte Mohn seinen Preis und zeichnete zum einen mit der britischen Universität in Warwick »eine vorbildliche europäische Universität« aus, die seinem Modell entsprach, und zum anderen mit dem Rektor der norwegischen Universität Bergen eine »kreative und erfolgreiche Universitätsführung mit spürbarer Einwirkung auf die staatliche Hochschulpolitik«.

Bemerkenswert ist im Rückblick eine distanzierende Bemerkung Mohns über Rankings. Von Rankings habe die Stiftung »Abstand genommen, da diese Vergleiche zwischen unterschiedlichen Hochschulsystemen schwerlich zulassen, länderweise kaum vergleichbar sind und schließlich, und das war entscheidend, der Anlage und Intention des Preises nicht entsprechen«. Ihm persönlich habe es bei den Recherchen leid getan, sagte er, auf exzellente Hochschulführer zu stoßen, »denen jedoch durch unsinnige Vorschriften die Hände gebunden sind«. Diese Erfahrung, die er an dieser Stelle nicht näher ausführte, wurde ein zentrales Motiv in Mohns Kampagne gegen eine aus seiner Sicht lähmende Hochschulpolitik. Aus »die Hände gebunden« wird die zentrale Metapher des CHE, die eine »entfesselte Hochschule« anstrebt.

Auf dem Symposium im Mai 1990 sagte Mohn, dass in vielen Ländern die Hochschulpolitik »durch Opportunismus und unrealistische Zielsetzungen« gekennzeichnet sei. »Die Führungen der Hochschulen sind sich zwar über die Gründe der unbefriedigenden Leistungen im klaren und auch ansprechbar auf Reformen. Sie sehen aber kaum Möglichkeiten, die zuständigen staatlichen und politischen Institutionen entsprechend zu beeinflussen.«

Mohn folgerte daraus, dass es in diesem Fall weniger um die Entwicklung von Lösungen ginge, sondern »vielmehr um die Zurkenntnisnahme und die Implementierung bereits vorhandener und bewährter Grundsätze«. Mit anderen Worten: Mohn entschied von Beginn an, dass die Lösungen bereits auf dem Tisch liegen und er vor allem dafür sorgen musste, die verkrusteten Strukturen der Hochschulpolitik aufzubrechen. Nur wenn er auf die maßgeblichen Akteure Einfluss gewänne, würde er eine Chance haben, seine Modelle und Lösungen umzusetzen. Davon abgesehen war die große Parole, die Mohn der Gesellschaft als Generallösung zur Gesundung verabreichte, immer gleich: weniger Staat, mehr Wettbewerb.

Mohn stellte das Konzept, das er dann über viele Jahre verfeinern ließ und verfolgte, bereits im Rahmen der Verleihung des Carl Bertelsmann-Preises und des vorausgehenden Symposiums im Mai 1990 auf. Er verkündete ein neun Punkte umfassendes »Bewertungsmodell für Hochschulpolitik und Hochschulen«. Darin forderte er, dass sich staatliche Hochschulpolitik auf Rahmenrichtlinien beschränken sollten.

Der Staat sollte seiner Hochschulpolitik eine Verfassung geben und diese Verfassung wiederum sollte Mohns Führungsprinzip des Delegierens von Verantwortung verpflichtet sein. Die Führung der Universität sollte sich analog zu einem Unternehmen aus einem Exekutivorgan (Präsident, Rektor) und einem Aufsichtsorgan zusammensetzen. Die Hälfte der Mitglieder des Aufsichtsgremiums sollten »führungstechnisch erfahrene Mitglieder« sein – Mohns Umschreibung für Manager oder Unternehmer. Die Hochschulen müssten der Öffentlichkeit in einem Jahresbericht Rechenschaft über ihre Ergebnisse geben, sodass ihre Leistungen untereinander vergleichbar werden. Aus dem Gedanken, die Hochschulen miteinander zu vergleichen, entstand später die Idee des Rankings. Denn während die Stiftung keine Rankings der Hochschulsysteme unterschiedlicher Länder aufstellen wollte, glaubte Mohn innerhalb eines Landes beziehungsweise Systems sehr wohl an den Nutzen eines Rankings.

Die Hochschule könne – wie die private Universität in Witten/Herdecke – ihre Studierenden selbst auswählen und besondere Leistungen ihrer Mitarbeiter finanziell anerkennen. Das heißt: Die Bezahlung müsse sich nicht mehr nach einem für Beamte vorgegebenen Tarifschlüssel richten. Es gelte das Vergütungsprinzip der freien Wirtschaft von Bezahlung nach Leistung. Das entsprach Reinhard Mohns Verständnis vom Lösen der Fesseln. Doch damit noch nicht genug: Hochschulen sollten nicht nur auf staatliche Mittel und Drittmittel (Fördergelder) angewiesen sein, sondern ihre Einnahmen durch Erlöse aus wirtschaftlicher Tätigkeit und durch die Erhebung von Studiengebühren erhöhen. Vermutlich ahnte Mohn, dass das Thema Studiengebühren politisch heikel sein kann, wenn er nicht Wege fand, sie sozial erscheinen zu lassen. Deshalb ergänzte er sein Konzept um folgenden Aspekt: »Sofern Studiengebühren erhoben werden, müssen jedoch Stipendien möglich sein beziehungsweise alle Gebühren für die Studenten auf dem Kreditwege zwischenfinanzierbar sein.«

Diese Grundsätze, die eine traditionell kulturell geprägte Hochschule in ein unternehmerisch geschnittenes Kleid steckten, umschrieb Mohn mit den Stichwörtern Freiheit und Autonomie. Mohn legitimierte dieses »Soll-Modell«, wie er es nannte, mit dem Hinweis, dass es mit in- und ausländischen Hochschulexperten »gründlich diskutiert« worden sei. »Qualifizierte Rating-Methoden im angelsächsischen Raum führten zu bemerkenswerten Übereinstimmungen der Leistungseinschätzung einer Hochschule mit dem von der Bertelsmann Stiftung erwickelten organisatorischen Soll-Modell.« Das Symposium habe ähnliche Ergebnisse erbracht.

»Die Arbeitsweise guter Hochschulen« gleiche jener erfolgreicher Unternehmen, betonte Mohn. »Die Grundsätze moderner Unternehmenskultur in der Wirtschaft gelten in gleicher Weise auch für die Tätigkeit innerhalb der Hochschulen.« Mohn hatte somit sein Programm veröffentlicht. Jetzt wollte er es umsetzen. Würde ihm das gelingen? Unter seinen ausgesuchten Gästen waren seine Impulse willkommen.

Dieter Simon, Professor für europäische Rechtsgeschichte am Max-Planck-Institut in Köln und Vorsitzender des Wissenschaftsrates, griff Reinhard Mohns Anregung für Studiengebühren auf. Der Jurist schlug allerdings vor, »nicht die Anbieter, sondern die Nachfrager zu subventionieren«.

Der Staat solle demnach das Geld den Universitäten nicht direkt überlassen, sondern einen Teil davon den Studenten geben, die dann die Hochschulen für ihre Dienstleistung bezahlen. »Eine sozialverträgliche Lösung könnte darin bestehen, dass jeder Student einen Gutschein erhält«, sagte Simon. Mit dem Gutschein bezahle er die Uni, die diesen dann beim Finanzministerium des Bundeslandes, aus dem der Student stammt, einlösen kann. Zwar gab die Mehrheit der Teilnehmer der Einführung von Studiengebühren durch ein Gutscheinsystem keine Chance, aber es ging in den folgenden Diskussionen immer wieder um die Themen Rankings und Studiengebühren. Damit beschrieb die Diskussion in Gütersloh 1990 bereits zwei Wege, die Mohn vier Jahre später mit seinem Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) beschreiten sollte.

Bertelsmannrepublik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik
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