Die Kommunikationsordnung 2000

Die Stiftung baute den Medienbereich weiter aus und machte ihn zu einem Schwerpunkt: Die Leiterin dieses Bereichs, Ingrid Hamm, wurde Geschäftsführerin der Stiftung; ihr Aufstieg zeigt auch, dass ihr Bereich an Bedeutung gewonnen hatte. Die Stiftung versammelte viele namhafte und einflussreiche Praktiker (Chefredakteure, Programm- und Verlagschefs sowie Experten aus den USA), sie gab Studien in Auftrag und lud zu Seminaren ein. Der Ansatz war durchaus kritisch. Die Ergebnisse waren oft so richtig und anspruchsvoll wie wissenschaftlich und für die Praxis meist nur bedingt hilfreich. Sie hatten keine Folgen. Sie veränderten und verbesserten nichts. Aber die Stiftung machte sich breit, verteilte Geld und erhielt Einfluss.

Einiges ist sicherlich lobenswert, beispielsweise hielt Dieter Anschlag, ein renommierter Medienjournalist aus Köln, im September 1996 im Auftrag der Stiftung in Berlin ein Seminar über kritischen Medienjournalismus. Das Seminar dauerte eine ganze Woche. Referenten waren unter anderem der Medienautor des Spiegel, Hans-Jürgen Jakobs, Klaus Ott von der Süddeutschen Zeitung und Ingrid Scheithauer von der Frankfurter Rundschau. Es ging in den Vorträgen und Diskussionen darum, den Blick für die Relevanz medienpolitischer Entscheidungen zu schärfen, und auch um »die Notwendigkeit der Autonomie« – also um journalistische Unabhängigkeit. Anschlag schreibt für den in Köln erscheinenden Medienfachdienst Funkkorrespondenz. Der Dienst wird von der katholischen Kirche herausgegeben. Anschlag urteilte inhaltlich unabhängig, er war kompetent und angesehen und er glaubte, dass die Stiftung ihn wegen seiner Unabhängigkeit ausgewählt hatte, über Qualität und Unabhängigkeit von Medienjournalismus zu referieren. Mit diesem Anspruch schrieb er wenige Monate nach dem Seminar in Berlin Anfang 1997 auch über ein Positionspapier der Bertelsmann Stiftung, das die Medienanstalten der Bundesländer als antiquierte Modelle betrachtete und forderte, die Kartellbehörden sollten ihre Aufgaben übernehmen.

Das Positionspapier beschrieb eine »Kommunikationsordnung 2000« und war im Januar 1997 in Gütersloh fünf ausgewählten Medienjournalisten von Kurt Biedenkopf (CDU) vorgestellt worden. Biedenkopf war sächsischer Ministerpräsident, ehemaliges Gremienmitglied der Bertelsmann Stiftung, und wurde von Anschlag als »Haus- und Hofreferent der Bertelsmann Stiftung« bezeichnet. Biedenkopf stellte das Papier laut Stiftung mit folgenden Worten vor: »In einer Kommunikationsordnung der Zukunft müssen Freiheit die Regel und Wettbewerb wichtiger als staatliche Regulierung sein. Nur so lassen sich Medienqualität und Vielfalt sichern. Wir sollten die Strukturen der Wirklichkeit anpassen, sonst droht die deutsche Kommunikationswirtschaft im globalen Markt ins Hintertreffen zu geraten.« Das Papier kritisiert »Überregulierung und Zersplitterung der Aufsicht für die deutsche Kommunikationswirtschaft. Angesichts der Globalisierung der Märkte sei die Rundfunkkontrolle durch die Landesmedienanstalten keine tragfähige Lösung mehr. Deutschen Medienunternehmen entstünden daraus vielmehr Nachteile im internationalen Wettbewerb sowie Rechts- und Planungsunsicherheiten.« Mit anderen Worten: die Stiftung will die Aufsicht abschaffen und ihr ehemaliges Beiratsmitglied Biedenkopf macht sich dafür stark. Zu den neun Beratern des Positionspapiers zählten neben Biedenkopf Peter Glotz (SPD/ Bertelsmann Stiftung), Jo Groebel, der Medienrechtler Ernst-Joachim Mestmäcker, Reinhard Mohn, Mark Wössner, Manfred Lahnstein und Johannes Gross (ehemals Gruner + Jahr). Die Mehrheit der Experten ist also Bertelsmann eng verbunden und wurde vom Unternehmen bezahlt.

»Eine absurde Konstellation«, wie Anschlag fand: »Vier Führungspersonen des Bertelsmann-Konzerns und ein der CDU angehöriger Bertelsmann-Hauspolitiker beraten die Bertelsmann Stiftung für ein Grundsatzpapier zur ›Kommunikationsordnung 2000‹, die verkauft wird, als sei sie ein neues gesellschaftliches Allgemeingut und in dieser Funktion mindestens gleichrangig mit rundfunkspezifischen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Der zweitgrößte Medienkonzern der Welt versucht, die kritische Reflexion über sein eigenes unternehmerisches Handeln selbst zu beherrschen. Dass dies nicht als Widerspruch in sich betrachtet wird, sondern bei Bertelsmann und den Beteiligten offensichtlich als die natürlichste Sache der Welt gilt, müsste selbst dem Konzern als bedenklich auffallen.«3 Aus diesem Papier sei abzuleiten, schrieb Anschlag, dass staatsvertraglich und föderal verfasste Kontrolle zunehmend durch das Prinzip unternehmerischer Eigenverantwortung ersetzt werden solle. Man sehe am Einfluss von Bertelsmann auf seinen wirtschaftlich so erfolgreichen Vorzeigesender RTL, wie gut diese Art vorgeblicher Selbstkontrolle in der Praxis funktioniere: nämlich gar nicht. In der Bertelsmann Stiftung war man nicht glücklich über diese kritische Bewertung eines Fachmanns.

Anschlag sagt heute: »Ich war naiv damals.« Er habe geglaubt, dass es der Stiftung wirklich ernst sei mit kritischem, aufklärendem Medienjournalismus. Nach der Veröffentlichung seiner kritischen Worte meldete sich der zuständige Projektleiter seines Seminars bei ihm. Anschlag dachte, er wolle über das zweite Seminar reden, das die Stiftung bereits ankündigt hatte. Aber der Projektleiter teilte ihm mit, dass das Seminar zwar wie geplant stattfinden solle, allerdings ohne die Mitwirkung von Anschlag. Er habe das nicht nachgetragen, sagt Anschlag heute, weil die Reaktion der Stiftung ja ein weiteres Seminar über kritischen Medienjournalismus obsolet gemacht habe.

Ingrid Hamm, die damals den Bereich Medien verantwortete, sagte zur Begründung der Trennung von Anschlag intern sinngemäß, der Journalist habe mit seiner Kritik an der Kommunikationsordnung gezeigt, dass er die Ziele der Stiftung nicht teile. So jemanden könne man nicht ein Seminar über Medienjournalismus halten lassen – also die Beurteilung und Bewertung all dessen, was ihre Abteilung auf die Beine stellte. Was für Ziele? Anschlag liegt an unabhängigem Medienjournalismus. Es gibt unter Journalisten einen Spruch, mit dem sie an den ehemaligen Tagesthemen-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs erinnern. Friedrichs soll gesagt haben: Ein Journalist soll sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. Hamm dagegen hatte eine Auffassung von Journalismus, wie man sie auch in den Kirchen zuweilen antreffen kann. Kritik an der Kirche, finden manche Priester, sei unangebracht und Zeichen des Unglaubens.

Hamms Verhalten offenbarte, dass sie nicht zu Ende gedacht hat, was unabhängiger Journalismus bedeutet. Dabei ist gerade im Medienjournalismus Unabhängigkeit besonders wichtig, weil sie schwer zu bewahren ist. Die Ironie der Trennung von Dieter Anschlag als Leiter des Seminars liegt darin, dass er der Stiftung einen Mangel an Unabhängigkeit bei der Debatte um die Kommunikationsordnung vorwarf und die Stiftung mit Anschlags Rauswurf genau diesen Mangel der Unabhängigkeit zur Schau stellte. Mit anderen Worten: den Vorwurf, den Anschlag ihr machte, belegte die Stiftung im Umgang mit ihm.

Bertelsmannrepublik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik
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