Das Modell der Mitarbeiterbeteiligung

Bertelsmann war das erste große Unternehmen in Deutschland, das seine Mitarbeiter am Gewinn beteiligte. Die Mitarbeiterbeteiligung kann als Modell für die Konstruktion der Stiftung kaum überschätzt werden und deshalb lohnt ein genauer Blick darauf. 1971 wurde Bertelsmann in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, deren gesamtes Kapital im Besitz der Familie Mohn ist. Im Geschäftsjahr 1971/72 beschäftigte die AG 13 000 Mitarbeiter und machte 801 Millionen Mark Umsatz. In einer Liste der hundert größten Firmen stand sie an 92. Stelle. Von den 3 800 Mitarbeitern, die aufgrund ihrer mindestens dreijährigen Betriebszugehörigkeit 1970 zum ersten Mal an dem neuen Modell teilnehmen konnten, beteiligten sich 84 Prozent. 1971 waren es 78 Prozent der Berechtigten.

Die teilnehmenden Mitarbeiter müssen einen Eigenbeitrag von 25 Prozent leisten, den sie gemeinsam mit dem Gewinnanteil der Bertelsmann AG über eine Beteiligungsgesellschaft zur Verfügung stellen. Den Gewinn daraus teilen sich Mohn und die Mitarbeiter. Dabei werden die Ausschüttungen an die Mitarbeiter in »Bertelsmann-Genussscheinen« angelegt, die an der Börse notiert sind. Die Verzinsung liegt bei 15 Prozent. Macht der Konzern Verlust, gibt es nichts – das ist das Risiko. Meist aber erhalten die Mitarbeiter einen Zinsgewinn in Höhe von einem oder sogar zwei zusätzlichen Monatsgehältern. Manchmal gibt es aber nur 20 Prozent eines Monatslohns. Ein Mitarbeiter, der 1970 beteiligt wurde und seine Anteile nicht verkauft hat (das ist nach zwei Jahren möglich), besaß 1995 ein Genussscheindepot im Wert von 48 000 Mark. Bei einem Kurs des Genussscheins von etwa 190 Prozent entspricht das 91 200 Mark. Außerdem wurden von 1970 bis 1995 Zinsen in Höhe von 82 870 DM auf die Genussscheine ausgeschüttet, sodass sich in 25 Jahren insgesamt 170 000 Mark angesammelt haben. Es ist ein System, das treue Mitarbeiter belohnt – keine Frage. Sie erhalten so eine Zusatzrente von rund 600 Mark monatlich.

Das Unternehmen profitiert freilich nicht minder: Durch den Eigenbeitrag der Mitarbeiter werden die Steuern und Sozialabgaben, die das Unternehmen für den Gewinn zahlen muss, in etwa ausgeglichen. Das heißt, dass dem Unternehmen der an die Mitarbeiter verteilte Gewinnanteil fast vollständig zur Verfügung steht – genauer zu 95 Prozent (Mohn müsste dagegen mehr als die Hälfte ans Finanzamt abführen). Mohn sagte: »Den Kapitalisten, der als Inhaber eines Großunternehmens mehr Befriedigung darin findet, selbst noch eine Million mehr zu erhalten, dafür aber hohe Steuern zu zahlen und im Endeffekt weniger Betriebskapital zu haben, kann ich mir gar nicht vorstellen.«3

Von 1970 bis 1995 hat das Unternehmen rund 13 000 Mitarbeiter beteiligt und der Umsatz des Unternehmens war in dieser Zeit von 700 Millionen Mark auf 20 Milliarden Mark gestiegen. Ohne die Mitarbeiterbeteiligung, die viel Geld im Unternehmen ließ, wäre dies laut Mohn nicht möglich gewesen. Das Geld, das die Mitarbeiter dem Unternehmen als Fremdkapital überlassen, gilt für den Konzern als Eigenkapital, weil es sehr langfristig zur Verfügung steht. Als das Modell 1995 sein 25-jähriges Bestehen feierte, zog Mohn Bilanz: »Es kann heute von niemandem und insbesondere nicht von den Aktionären bestritten werden, dass der ›Gewinnverzicht‹ eine langfristig gesehen richtige und für die Aktionäre außerordentlich gewinnträchtige Maßnahme gewesen ist.«4

Die Mitarbeiterbeteiligung ist ein Modell, das laut Mohn die Arbeitswelt reformiert hat. Es ging Mohn darum, wie er damals sagte, »eine Lösung zu entwickeln, die keineswegs nur – im Sinne herkömmlicher Sozialpolitik – Vorteile für den Mitarbeiter in seinen Einkommensverhältnissen zur Folge hat. Vielmehr sollte die zu entwickelnde Lösung zugleich auch Vorteile für das Unternehmen und seine Inhaber mit sich bringen.«5 Andere Unternehmer zeigten wenig Verständnis für Mohns Ansatz und glaubten, er wolle sozialistische Verhältnisse predigen, die Unternehmen vergesellschaftlichen. Sie nannten ihn »roter Mohn«. Dabei funktioniert Mohns Modell nach kapitalistischen Grundsätzen: Unabdingbar sei, dass die Mitarbeiter am Risiko beteiligt seien, sagte Mohn. Das heißt: Wenn Bertelsmann Verluste machen würde, müssten die Mitarbeiter auf ihr Geld verzichten. Ihr Einsatz wäre dann verloren. Ein Recht auf Mitbestimmung will Mohn aus dieser Risikobeteiligung jedoch nicht ableiten. Der Arbeitnehmer könne sich ja wie ein Aktionär verhalten und seinen Anteil verkaufen, sagte Mohn.

Von politischer Seite gab es durchaus Zustimmung. Helmut Schmidt besuchte Mohn das erste Mal in Gütersloh in den fünfziger Jahren als junger Abgeordneter. Schmidt verfolgte den Aufstieg Mohns und war beeindruckt von seinem Modell: »Gewinnbeteiligung und Genussscheine für die Arbeitsnehmer sind Belege für Mohns eindrucksvolles Engagement und für seinen Mut zum Experiment«, schrieb Schmidt über Mohn. Die Gewerkschaften seien nicht begeistert gewesen von Mohns Modell, erinnert sich Schmidt. »Aber als objektiver Betrachter muss man anerkennen: Mohn hat als Unternehmer wie als Gesellschaftspolitiker eine Glanzleistung vollbracht; er ist das Gegenteil eines ›freibeuterischen Kapitalisten‹«.6

Es spricht in der Tat einiges für die Beteiligung der Mitarbeiter am Kapital, denn in Deutschland wird immer noch Arbeit stärker besteuert als Kapital. Mohn machte in seinem Modell allerdings zur Bedingung, dass die Mitarbeiter nicht direkt am Kapital beteiligt werden, sondern über die Genussscheine. Diese entsprechen stimmlosen Aktien – eine Art Gutschein. Den aktuellen Nutzen hat zunächst derjenige, dem das Kapital gehört, also Mohn. Es ist folglich eine Ironie, dass die Bertelsmann Stiftung sein Modell in einer Publikation 1997 mit den folgenden Worten Mohns begründet: »In der Welt der Arbeit wollen sich die Menschen heute identifizieren und verwirklichen können, sie wollen mitdenken, mitsprechen und mitgestalten.«7 In Wirklichkeit ließ Mohn die Mitarbeiter nur mitfinanzieren, nicht mitsprechen oder mitgestalten. Mohn bestimmte alleine, was mit seinem Unternehmen passiert. Aber er verstand es, seinen Mitarbeitern und der Öffentlichkeit den gegenteiligen Eindruck zu vermitteln.

In der Öffentlichkeit und in der Presse wurde durchaus der Eindruck erzeugt, Mohn habe seine Mitarbeiter tatsächlich am Unternehmen beteiligt. Das geht so weit, dass die Tagesschau am Tag seines Todes 2009 im Nachruf einen alten O-Ton von Mohn sendete, in dem er sagt, das Unternehmen gehöre zu einem großen Teil den Mitarbeitern. Der Hinweis, dass diese nichts zu sagen haben, dass es sich nur um Genussscheine und nicht um Aktien handelt, und dass also 100 Prozent des Kapitals und der Stimmen der Bertelsmann AG im Besitz der Stiftung und der Familie Mohn sind, unterbleibt.

Die Stiftung ist die logische Fortsetzung oder Weiterentwicklung des Modells der Gewinn- und Mitarbeiterbeteiligung. Mohn machte damit praktisch alle Deutschen zu seinen Mitarbeitern und Teilhabern – indem sie die Projekte der Stiftung durch Steuererlass mitfinanzieren. Er gründete so die Bertelsmannrepublik Deutschland. Sie ist ein Geschenk an die Allgemeinheit. Alle sollen sich am Ausbau seines Unternehmens beteiligen. Das sagt Bertelsmann ganz offen auf seiner Website. Da nur ein kleiner Teil der Gewinne an die Aktionäre ausgeschüttet werde, verbleibe der »weitaus größte Teil der Gewinne im Unternehmen«. Was die Entscheidungen betrifft, so ist das Modell weder sozialistisch noch demokratisch. Es bleibt kapitalistisch. Das Ziel der Bertelsmann Stiftung ist klar: eine durch Wettbewerb und Vergleich geprägte Gesellschaft.

Aber womit will Mohn diese Gesellschaft motivieren? Seine Mitarbeiter hat er durch Beteiligung am Gewinn motiviert. Gewinn winkt auch dank Mohns Wettbewerb in der Gesellschaft, aber nicht alle werden davon profitieren. Es wird auch Verlierer geben. Mohns Mitarbeiter können wählen, ob sie für ihn arbeiten und ob sie sich beteiligen wollen. Aber worin besteht die Wahl der Bürger? Wer bestimmt in seinem Modell? Gewinner sind automatisch diejenigen, die an der Macht sind. Mohn plante zwar Wettbewerb in Verwaltung und in Institutionen, im Arbeitsmarkt und in den Hochschulen, aber an der Spitze akzeptiert Bertelsmann die Machtverteilung nicht. Mohns Modell hat einen Verlierer: die Allgemeinheit. Denn ohne das Modell müsste Bertelsmann Steuern abführen, die er aber auf diese Weise im Unternehmen behält. Der Staat geht leer aus.

Mohn machte nichts Illegales. Er nutzte nur bestehende Steuerlücken aus. Es kam ihm, aber auch seinen Mitarbeitern zugute. In Mohns Augen war das gemeinnützig. Anders ist nicht zu verstehen, dass Mohn das Modell der Mitarbeiterbeteiligung als Projekt in seiner gemeinnützigen Stiftung fördert und dafür Werbung macht. Man könnte entgegnen, dass dies Aufgabe einer Unternehmensberatung, nicht aber einer gemeinnützigen Stiftung ist. »Mitarbeiterbeteiligung ist einer der wichtigsten Bausteine einer zukunftsorientierten und partnerschaftlichen Unternehmenskultur«, betont die Stiftung.8

Von Beginn an betrachtete Mohn sein Modell als Modell für Deutschlands Unternehmen. Die klare Trennung von Gewinnbeteiligung und Vermögensbildung sollte anderen Unternehmern die Angst nehmen, dass sie mit einer Beteiligung automatisch die unternehmerische Führung aus der Hand geben würden, sagte Mohn. Er möchte »mit seinem Modell ein Beispiel geben und andere Unternehmer zur Nachahmung ermuntern«, wie er dem Journalisten Michael Jungblut für dessen Buch Nicht vom Lohn allein diese Trennung erläuterte. Und deshalb also die Trennung von Kapital und Stimmrechten? Anderen Unternehmern Angst vor der Nachahmung nehmen? Man darf freilich getrost annehmen, dass Mohn selbst genau diese Angst zu diesem Modell der Trennung der Kapitalanteile vom Stimmrecht animiert hat. Mohn versicherte Jungblut, er selbst habe »diesen Komplex mit einer vorgeschalteten Vermögensverwaltungsgesellschaft völlig ausgeschaltet.«

Das Modell bringt auf den ersten Blick nur Vorteile. Dabei sind die Nachteile für die Allgemeinheit in die DNA dieses Modells eingearbeitet. Mohn wollte das allerdings nicht sehen und wer den Ursprung des Stiftungsmodells kennt, wird zumindest nachvollziehen, warum Mohn trotz der Fehler und Schwächen immer von seinem Stiftungsmodell überzeugt war, denn für ihn gab es nie Schwächen.

Mohn hatte immer alles unter Kontrolle – sei es bei der Beteiligung der Mitarbeiter oder später in seiner Stiftung.

Bertelsmannrepublik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik
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