Fragwürdige Erfolge: Das Modellprojekt Köln
Auch in Köln profitierte die Stiftung von ihrer jahrelangen Vorarbeit. Jetzt zahlte sich das gute Verhältnis zu Bundespräsident Roman Herzog aus. Die Stiftung schob gerne Projekte an, die sie der Öffentlichkeit als Maßnahmen präsentierte, zu denen sie von der Politik gebeten worden sei. So war es auch diesmal. Die Stiftung tat sich leichter, kommunale Politiker und Beamte anzusprechen, wenn der Segen von allerhöchster Stelle erteilt wurde. Deshalb holte sich die Stiftung die Legitimation für dieses Projekt vom Bundespräsidenten, dessen Amtszeit kurz vor dem Ende stand. Gemeinsam starteten Präsident und Stiftung 1999 eine Initiative zur »Förderung beschäftigungsorientierter Sozialpolitik in Kommunen«. Die Stiftung gründete, koordinierte und finanzierte teilweise ein Netzwerk von »24 besonders motivierten und reformfreudigen Kommunen«. Von Dezember 2001 bis September 2003 setzten 15 Städte und 9 Landkreise von Bielefeld über Kassel und Reutlingen bis Paderborn Modellprojekte um, die von »Benchmarking« über eine »Vergleichsanalyse zu Kosten und Nutzen« bis zu gemeinsamer Fortbildung von Fachkräften der Arbeitsämter und der Sozialverwaltungen reichten.
Eine dieser besonders reformwilligen Kommunen war Köln. Die Stadt litt an Geldmangel und wollte ihre Sozialausgaben 1999 innerhalb von zwei Jahren um 20 Millionen Mark senken, indem sie Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammenlegte. In einer Projektbeschreibung der Bertelsmann Stiftung, die das Kölner Modell 1999 als beispielhaft anführt, heißt es: »Dabei sollen die Rechtsansprüche der Hilfsbedürftigen nicht angetastet werden.« Man wollte keine Kritik provozieren. Doch entsprach das Versprechen der Stiftung der Realität?
Schon seit Januar 1998 versuchte das Sozialamt in Köln einen neuen Umgang mit jungen Arbeitslosen und startete das Projekt »Sprungbrett«. Es war ein schöner Name für eine gut klingende Idee: Junge Leute, die seit Monaten oder Jahren nichts tun, sollten auf Job und Arbeit vorbereitet werden. »Sanft und verständnisvoll«, wie die Frankfurter Rundschau nach einem Besuch und Gesprächen mit den Verantwortlichen berichtete. »Sanft und verständnisvoll« bedeutet: Das Sozialamt stellte jeden Sozialhilfeberechtigten im Alter zwischen 18 und 25 Jahre vor die Wahl, entweder eine Lehrstelle oder Arbeit in einer von sieben Beschäftigungseinrichtungen anzunehmen – oder kein Geld mehr zu erhalten. Nur wer arbeitet, bekommt Geld. Die Sozialhilfe wurde sonst, obwohl gesetzlich eigentlich zugesichert, einfach gestrichen. Nicht Arbeitslose, sondern nur mehr Kranke, Behinderte oder bedürftige Alleinerziehende erhielten Geld.
Amtsleiter aus Rostock und Düren, Offenbach, München, Wismar, Hamburg, Darmstadt, Ostthüringen reisten nach Köln und informierten sich über das Modell. Die Frankfurter Rundschau berichtete im September 2001 von einem bundesweiten Rekord der Kölner: Von den 5 500 noch im Jahr 1999 von Sozialhilfe lebenden 16- bis 24-Jährigen würden nur noch 1 000 von der staatlichen Stütze leben – eben jene Personen, die krank, schwanger oder behindert sind. Einige hätten »sich verdrückt«, heißt es, und arbeiteten vermutlich schwarz. Aber die Mehrheit sei in Schule, Weiterbildung oder bei der Einrichtung »Sprungbrett« untergekommen.
Die Arbeitsrechtlerin Helga Spindler beobachtete das Projekt in Köln aufmerksam und sie berichtete, was Zeitungen übersahen. Dazu gehörte der Umstand, dass zahlreiche Sozialhilfebezieher dem Amt in Köln verloren gingen. Von 1 556 Personen ist der Verbleib unklar. Die Träger veranlassten zwar eine Untersuchung, unterließen aber eine genaue Prüfung – angeblich, weil zu wenig Daten existierten. Was genau mit diesen Personen passiert sei, lasse sich nicht sagen, analysierte Spindler. Sicher aber sei, dass mehr als 600 Personen ein Antrag verweigert wurde. Es lasse sich nichts mehr über diese Personen sagen, aber einen Zweck erfüllen sie: Sie belegen den Erfolg des Kölner Modells. Spindler nennt das »Luftbuchungen«. Personen, über deren Verbleib nichts bekannt ist, die aber als Erfolg verbucht werden, weil sie aus der Statistik für Sozial- und Arbeitslosenhilfe rausgefallen sind. Ob sie zu Recht oder Unrecht aussortiert wurden, lasse sich nicht mehr klären.
Während die beiden federführenden Arbeitsmarktexperten der Bertelsmann Stiftung, Stefan Empter und Frank Frick, ein Jahr nach Beginn des Projekts zuversichtlich behaupteten, in Köln »sollen die Rechtsansprüche der Hilfsbedürftigen nicht angetastet werden«,9 sah Spindler im Juli 2003 »Rechtsverweigerung, Ausgrenzung und fragwürdige Erfolge in vielen hundert Fällen«. Sie warf den Verantwortlichen des Kölner Projekts vor, es gebe keine klar umschriebene Arbeitspflicht und keine Arbeitsrechte. Der Stundenlohn liege bei 2,60 Euro netto. Miete werde unbürokratisch gewährleistet, was bedeutet, dass sie nur erhält, wer seinen Pflichten nachkommt. Da diese Pflichten nicht klar umschrieben seien, liege vieles im Ermessen der sieben Träger der Maßnahme (das sind lokale Vereine).
Das »Sprungbrett« sei willkürlich organisiert und willkürlich in seinen Methoden. Die Träger dürften auch über die Kürzung des Existenzminimums entscheiden, obwohl das laut Gesetz eigentlich dem Staat vorbehalten sei. Spindler kritisierte den »Abbau von Sozialrechten, den Missbrauch der Arbeitsverpflichtung in Richtung Arbeitsdienst, vor allem die schon fast an Feudalzeiten erinnernden Arbeitsbedingungen«. Sie kritisierte weiterhin, dass Sozialhilfe in Köln grundsätzlich als etwas Negatives dargestellt würde, als »perfides System der Ausgrenzung«, das junge Leute abschiebe, statt ihnen zu helfen. Dabei sehe Sozialhilfe eigentlich beides vor: Existenzsicherung und notwendige persönliche Hilfe. Während die Verantwortlichen in Köln ihr Modell als großen Erfolg anpriesen, weil die Arbeitslosigkeit gesunken sei, sei in Wirklichkeit nur die Zahl der Sozialhilfeempfänger gesunken, sagte Spindler. Ziehe man ihre Zahl ab, dann sei die Zahl der Arbeitslosen sogar gestiegen. Statt Arbeitslosigkeit zu beheben, säubere das Projekt die Statistik. Ein fragwürdiger Erfolg.
Doch das hinderte die Bertelsmann Stiftung nicht, das Kölner Modell in der Hartz-Kommission als beispielhaftes Modell für Deutschland zu empfehlen. Stefan Empter und Frank Frick führten dazu vergleichende Analysen zwischen dreißig Kommunen von Köln und Leipzig, von Pforzheim und Siegen bis zum französischen Marseille, dem amerikanischen Milwaukee und dem dänischen Farum durch. Alles wirkte sehr wissenschaftlich. Die Stiftung berief sich in ihrer Arbeit auf § 1 des Bundessozialhilfegesetzes: »Der Hilfeempfänger soll befähigt werden, unabhängig von der Hilfe zu leben.« Immerhin seien rund eine Million Sozialhilfeempfänger arbeitsfähig, ohne einer Arbeit nachzugehen. Sozialhilfe solle leistungsabhängig gezahlt werden. Schwerpunkt sei das Programm »Arbeit statt Sozialhilfe« für rund 6 000 arbeitslose Jugendliche und junge Erwachsene. Die Erfolge blieben letztlich unklar, nur eines wird offensichtlich: Die Bertelsmann Stiftung drängte auf Reformen und sie fand Mitstreiter, die ihre Arbeit legitimierten.
Spindler sah weder Rechtssicherheit noch Transparenz und auch nicht Kontrolle gewährleistet. Mit anderen Worten: Das Sozialamt hat ein System entwickelt, das nicht rechtmäßig ist. Spindler sieht Geld für nutzlose Kontrollmaßnahmen aufgewendet, sogenannte Angebote, die Menschen ohne ausreichende Beratung in Situationen drängen, die ihnen nicht liegen und deshalb nicht von Dauer sind – nicht geeignet, ihnen Lebensunterhalt und menschenwürdige Perspektive zu bieten.
Das Kölner Jobcenter wurde zum Vorbild für alle anderen Jobcenter. Dabei waren die Vermittlungserfolge bescheiden, sagt Spindler heute: Die rund 10 Prozent der Zwangsnutzer, die nach den Statistiken ohne Zuschüsse auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelt wurden, hätte man auch ohne diesen Aufwand mit einer intensiveren Arbeitsvermittlung des Arbeitsamts erreichen können.10 Spindler bilanzierte: Die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld blieben zwar scheinbar erhalten, aber sie sei nicht mehr das, was sie mal war. Die Obliegenheiten, Erwerbsverpflichtungen und die Verwaltung näherten sich der Sozialhilfe an. Der Bezieher der Versicherungsleistung verliere seine bisherige Rechtsposition, vor allem Berufs- und Entgeltschutz, und werde behandelt wie bisher der Sozialhilfeempfänger. Deshalb, so Spindler, sei die Reform ein begrifflicher Trick: Man erkläre die Sozialhilfe- und die Arbeitslosenhilfeempfänger zu Arbeitslosengeldempfängern, damit nicht so auffalle, dass sie alle Sozialhilfeempfänger geworden sind.