Die Hartz-Kommission

Am 22. Februar 2002 beauftragte die Bundesregierung den VW-Manager Peter Hartz, Vorschläge für die Reform der Arbeitsverwaltung zu erarbeiten. Bei der Wolfsburg AG (WOB AG) war unter der Mitarbeit von McKinsey die Halbierung der Arbeitslosigkeit von 10000 auf die Hälfte gelungen. Hartz wertete das als Erfolgserlebnis, das er ausdehnen wollte. Er hatte der Politik versprochen, er könne die Arbeitslosigkeit in Deutschland halbieren. Hartz berief Gewerkschaftsvertreter, Wirtschaftsführer, Wissenschaftler und Unternehmensberater in eine Kommission – insgesamt waren es 15 Personen. Die Hartz-Kommission tagte von März bis August 2002 neun Mal. Fünf thematische Teilgruppen hielten Workshops ab, hörten Berater, Wissenschaftler und Praktiker; die Kommission beriet Zwischen- und Abschlussberichte. Günther Schmid hat die Arbeit als kreatives Chaos in Erinnerung, der Prozess folge dem »Organisationsmodell eines Mülleimers«6, der vieles aufnehme. Peter Hartz behielt den Überblick. Von ihm kam, wie Schmid sich erinnert, aus Wolfsburg die »zentrale konzeptionelle Steuerung«.

Knapp sechs Monate später legte die Kommission am 16. August 2002 ihr Reformpaket vor. Sie hatte 13 Module entwickelt, von der Legalisierung der Schwarzarbeit über sogenannte Ich-AGs bis hin zu einem Bonus-System. Vieles davon ist heute wieder in Vergessenheit geraten. Eines der Module aber beschäftigte Politik, Gerichte, Gesellschaft und Medien wie kein anderes Reformvorhaben der Bundesrepublik: die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitsämtern und ihrer Hilfeleistungen unter dem Namen Hartz IV.

 

Es vergeht seitdem kaum ein Tag, an dem nicht Hartz IV in der Tagesschau Thema ist, dass Politiker und Betroffene in Talkshows darüber diskutieren, dass Parteiprogramme umgeschrieben werden oder die Bild zu einem neuen angeblichen Skandal eine große Schlagzeile bringt. Hartz IV hat das Land verändert. Es gilt als größtes Reformprojekt der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland. Es beschäftigt Gerichte, formt Jugendsprache, es ist Thema in Predigten von Pfarrern in Kirchen und von Politikern in Bierzelten. Es hat dem Land einen Ruck gegeben. Betroffene gingen auf die Straße und gründeten eine Partei. Eine andere musste in die Opposition. Alles wegen Hartz IV.

Reinhard Mohn und Peter Hartz kannten sich. Mohn hatte in Wolfsburg einmal einen Vortrag gehalten und Hartz hatte die Ideen von Mohn damals als sehr progressiv empfunden. Hartz hatte bei VW die Vier-Tage-Woche erfunden, die 30 000 Jobs in Wolfsburg rettete. Hartz folgte dafür einer alten Gewerkschaftsidee und verteilte die vorhandene Arbeit mit weniger Stunden auf mehr Menschen, die dann weniger Geld bekommen.

Wie Mohn hatte Hartz sich von Roman Herzogs Ruck-Rede angesprochen gefühlt. So hatte er 1997 erstmals seine Ideen zum Arbeitsmarkt in einem Sammelband mit Reaktionen auf die Ruck-Rede formuliert. Hartz schrieb damals: »Ein neuer Zugang zu Arbeitsmarktpotenzialen gelingt nur, wenn wir bereit sind, mit klassischen Antworten zu brechen.« Man müsse Fragen anders stellen, etwa: »Wie gelingt es, aus 70 000 Arbeitsplätzen, für die nur Bedarf besteht, 100 000 Beschäftigungsverhältnisse zu machen?« Hartz verwies auf die Vier-Tage-Woche bei Volkswagen und erklärte, dass das »Voll-Konti-Modell« und die »Voll-Konti-Biografie« eine Fiktion seien. Er schrieb von Stafettenmodellen und bedarfsorientierter Beschäftigung »bis hin zur virtuellen Beschäftigung«. Die »jungen Alten« sollten Arbeit in gemeinschaftlichen Aufgaben finden.

Hartz machte neun Vorschläge zur Beschäftigungspolitik, darunter: »Wir brauchen ein neues Verständnis von Zumutbarkeit.« Wie Herzog forderte, so müssten alle Besitzstände auf den Prüfstand. »Wir brauchen eine neue Zumutbarkeit als Schlüsselbegriff einer neuen Beschäftigungspolitik. Der eine kann andere Entgelte, der andere wegen Ungebundenheit eine höhere Mobilität und der Dritte einen Berufsumstieg akzeptieren. Wer sich gegen die höhere Wettbewerbfähigkeit unserer Standorte sträubt, der macht sich mitschuldig an der Arbeitslosigkeit.« Hartz endete seinen Essay mit einem Versprechen: »Wenn es gelänge, überall die vorgeschlagenen neun Punkte systematisch abzuarbeiten, käme unser gemeinsames Ziel in greifbare Nähe, die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu halbieren.« Das Buch wurde auch in Gütersloh wahrgenommen, schließlich waren auch der Vorstandsvorsitzende Mark Wössner und der Aufsichtsratsvorsitzende Dieter Vogel mit Beiträgen vertreten. Die Bertelsmann Stiftung oder gar Bundespräsident Roman Herzog meldeten sich auf das Buch hin nicht bei Hartz, dafür aber der Kanzler Gerhard Schröder. 7

Bertelsmannrepublik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik
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