Das Einstiegsprojekt in England: Die Government Services von Arvato
Im englischen Distrikt East Riding steuert die Bertelsmann-Tochterfirma Arvato seit 2005 einen ganzen Landkreis. Die Verwaltungsaufgaben umfassen 3 000 Straßenkilometer, sieben Millionen Mülltonnen jährlich, 11 000 Sozialwohnungen, 159 Schulen, 990 Fahrzeuge und 39 000 Straßenlaternen.
Der Chef der britischen Arvato-Tochterfirma Government Services, Rainer Majcen, erzählt die Entstehungsgeschichte so: Er hat an der privaten Universität Witten/Herdecke Wirtschaft studiert und ist seit 2000 für Bertelsmann tätig. Er arbeitete bei einer Tochterfirma von Arvato in Dublin, als er 2002 auf eine Ausschreibung aufmerksam wurde. Es ging um »Financial Services«, um Dienstleistungen im öffentlichen Sektor. Davon verstand Majcen eigentlich wenig und Arvato hatte bis dahin auch kein Geschäft im öffentlichen Sektor, aber Majcen schrieb einfach zusammen, wie ein solches Geschäft aussehen könnte. Arvato gewann die Ausschreibung und drei Jahre später übernahm Arvato die Verwaltung in East Riding. Seitdem ist Rainer Majcen bei Arvato »Mister East Riding«, wie das Wirtschaftsmagazin brand eins schrieb.1
Die Planungen zwischen Arvato und East Riding liefen seit 2003. Die Grafschaft und Arvato schlossen ein, wie das Unternehmen betonte, »bahnbrechendes Abkommen«, dessen Laufzeit im Oktober 2005 begann. Arvato betreut 14 Bürgerbüros und schafft die Infrastruktur für 17 000 Angestellte, die im Jahr 50 000 Anrufe erledigen. Bertelsmann kümmert sich um die Gehaltsabrechnungen, bewertet, bewilligt und zahlt finanzielle Beihilfen und Sozialleistungen sowie Studienfinanzierung aus. Das Unternehmen stellt außerdem einen betriebsärztlichen Dienst und betreut Kredite. Arvato übernahm 516 Mitarbeiter (darunter 439 Vollzeitkräfte) und versprach, 600 Arbeitsplätze zu schaffen. Der Vertrag mit der Grafschaft läuft über acht Jahre und hat einen Wert von 240 Millionen Euro. In einem Joint Venture vermarkten beide Seiten Dienstleistungen für öffentliche und private Kunden.
Ziel von Arvato ist es, die Kosten der Verwaltung zu reduzieren. Dazu griff Arvato eine Anregung der Stiftung auf und maß in East Riding die Korrektheit sowie die Dauer der Bearbeitung eines Antrags. Ziel sei die Rufannahme binnen 21 Sekunden oder sieben Klingeltönen Wartezeit. Darüber hinaus maß Arvato die Kundenzufriedenheit. East Riding galt »inhaltlich und finanziell« in Gütersloh schon bald als großer Erfolg, wie Arvato-Chef Rolf Buch sagt.
Im März 2005 machte der damalige Arvato-Chef Hartmut Ostrowski in einem Interview mit der netzeitung deutlich, dass er den Einwand, Arbeitsplätze wegzurationalisieren, nicht gelten lassen will. Es sei zwar richtig, dass die Zahl der Arbeitsplätze abnehme, aber wenn man etwas schneller mache, dann könne man »die durch verbesserte Prozessabläufe eingesparte Zeit der Mitarbeiter auch für zusätzliche sinnvolle Tätigkeiten nutzen«, wie er betont. Die Mitarbeiter in England habe Arvato zu gleichen Konditionen übernommen und sie blieben in ihrem staatlichen Pensionsmodell. Ostrowski: »Es geht nicht so sehr darum, einfach bei den Beschäftigten Geld einzusparen. In Großbritannien werden wir an über 200 Indikatoren für die Qualität unserer Leistung gemessen. Wir als Arvato wiederum bewerten unsere Mitarbeiter nach ihrer Leistung, und leistungsabhängige Bezahlung ist natürlich eine ganz andere Form der Entlohnung als das, was derzeit hier bei der öffentlichen Hand praktiziert wird. Das wird dazu führen, dass der eine oder andere Mitarbeiter in East Riding mehr verdienen wird als vorher. Er muss dafür aber auch deutlich mehr leisten als vorher.«2
Nach England nahm Arvato Deutschland, vor allem aber auch Spanien ins Visier, danach sollte Frankreich folgen, wo Bertelsmann allerdings mit größerem politischen Widerstand rechnete. In England sind die Gewerkschaften geschwächt und das Land hat keine soziale Marktwirtschaft. Wie aber konnte man den deutschen Markt erobern, wo Politiker vor Rationalisierung zurückschrecken? Kann Bertelsmann Politiker und Bürger als Kunden gewinnen? Ohne Zustimmung der Politiker würde es nicht möglich sein, die Aufträge zu erhalten. Aber die Umstände kamen Arvato zu Hilfe.