Die Stiftung als Zuarbeiter und Weichensteller

Den Erfolg seiner Kommission schrieb Peter Hartz im Rückblick dem mehrfachen Organisationssystem zu, also einem System, in dem neben der Ministerialbürokratie einzelne Kommissionsmitglieder ihr eigenes Büro mitarbeiten ließen, sowie der Zuarbeit der Stiftung. Insgesamt waren mehrere hundert Leute beteiligt. Einige aber waren wichtiger und entscheidender als andere. Nach Aussage von Peter Hartz sei die Arbeit der Bertelsmann Stiftung nützlich und hilfreich gewesen. Es seien allerdings insgesamt viele Personen beteiligt gewesen. Der 240 Seiten umfassende Abschlussbericht der Kommission enthielt in der Anlage rund 2 000 Seiten Dokumentation. Es flossen viele Ideen und Konzepte ein und es ist schwierig, aus der Rückschau Verantwortlichkeiten zu benennen. Dennoch lässt sich die Rolle der Bertelsmann Stiftung in diesem Prozess schildern.

Helga Spindler, Professorin für öffentliches Recht, Sozial- und Arbeitsrecht an der Universität Duisburg-Essen hat die Rolle der Bertelsmann Stiftung bei der Hartz-Reform untersucht und kam zu dem Ergebnis: Die Stiftung »konnte es sich leisten, in dieser umstrittenen Kommission nicht direkt in Erscheinung zu treten, und sich auf Zuarbeiten und Weichenstellungen zu konzentrieren«. Ihre Arbeit sei aber entscheidend gewesen für den Erfolg der Kommission.

Als der Politikwissenschaftler und Historiker Hartwig Pautz die Rolle der Berater der Bertelsmann Stiftung bei der Agenda 2010 untersucht hat, sagte Eric Thode, ein Mitarbeiter der Stiftung: »Die direkte Zusammenarbeit mit der Hartz-Kommission war sehr punktuell.« Das klingt, als ob die Stiftung kaum Kontakt gehabt habe. Tatsächlich bedeutet es: Die Stiftung hatte viele Punkte, wo sie ansetzte. Das deckt sich mit der Einschätzung von Frank Frick, der weniger zurückhaltend ist, was die eigene Rolle betrifft, und sagt: »Wir haben einen unglaublichen Input geliefert.«

Die Bertelsmann Stiftung gründete dazu eine interne Arbeitsgruppe, deren Mitglieder sie nach außen gerne als unabhängig darstellte. Frank Frick erstellte ein siebenseitiges Strategiepapier »Zur Diskussion um die Reform von Arbeitslosen- und Sozialhilfe« und im Januar 2002 einen Folienvortrag »Reformkonzepte zur institutionellen Zusammenarbeit und Systemreform«. In dem Strategiepapier formulierte er: »In der Arbeitsgruppe gab es einen Konsens über das oberste Ziel: Die Reduzierung und Vermeidung der Hilfebedürftigkeit. Alle anderen Ziele – Transparenz und Bürgerfreundlichkeit, Kundenorientierung und Akzeptanz – müssen dahinter zurückstehen, damit es keine Zielkonflikte gibt.« Die Folien finden sich als Sachverständigenbeitrag in den Kommissionsmaterialien wieder.

Um die Vorteile einer Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe zu belegen, gab die Stiftung im Februar 2002 bei Werner Schönig vom Forschungsinstitut für Sozialpolitik der Universität zu Köln eine Studie über Kosten und Nutzen aktiver Arbeitsmarktpolitik in Auftrag; außerdem eine zweite Studie, die einen für Laien etwas sperrigen Titel trägt: Integration von Arbeitslosen- und Sozialhilfe: Quantitative Wirkungen und Anreize für die beteiligten Fiski. Ergebnis: Durch Wegfall der Arbeitslosenhilfe würde der Bund etwa 12,3 Milliarden Euro jährlich einsparen. Die Kommunen würden aufgrund von Mehrausgaben bei der Sozialhilfe mit etwa 3,2 Milliarden Euro mehr belastet. Der Autor des Gutachtens, Bruno Kaltenborn, war überrascht von diesem Ergebnis, weil die zusätzlichen Ausgaben für Sozialhilfe im Vergleich zu den Einsparungen gering erscheinen. Seine Überraschung war so groß, dass er riet: »Eine weitergehende Absicherung der Validität dieser Ergebnisse erscheint daher zweckmäßig.«

Die Bertelsmann Stiftung hatte einen großen Anteil daran, welche Inhalte Hartz erarbeitete. Sie referierte nicht nur in den fünf Arbeitsgruppen und lieferte Exposés über die Reform der Arbeitsverwaltung, sie steuerte und organisierte zudem fünf Reisen ins Ausland zu jenen Arbeitsämtern und Jobcentern, die als modellhaft galten und deren positives Beispiel die Reform wesentlich beeinflussten.

Wie viel diese Reisen gekostet haben, dazu schweigt die Stiftung. Jede Reise dauerte eine Woche. Die Kommissionsmitglieder trafen dort Wissenschaftler und Praktiker aus der Arbeitsvermittlung. Sie bekamen vorgeführt, was die Stiftung in ihrem am Kapitelanfang beschriebenen Video zusammengefasst hatte. Die Eindrücke wurden in zwei Workshops – wieder organisiert von der Bertelsmann Stiftung – vertieft. Durch Exposés, den Bericht Benchmarking Deutschland, die Reisen und deren Nachbereitung lieferte die Stiftung der Kommission damit wesentlichen Input. Sie bestimmte, worüber alle redeten und woran sie sich orientierten. Als Folge der Reisen fanden der verstärkte Einsatz von Zeitarbeitunternehmen, größere Kundenorientierung in den Arbeitsämtern, härtere Zumutbarkeitsregeln und das Prinzip des Förderns und Forderns Aufnahme in die Hartz-Vorschläge. Besonders zeigte sich dieser Einfluss bei den Jobcentern und Personalserviceagenturen – dem Herzstück von Hartz IV.

Die Stiftung bat auch wirklich unabhängige Experten um eine Einschätzung, aber ihre Kritik war in dieser Phase nicht wirklich erwünscht. So wendete sich die Stiftung auch an Helga Spindler, als Expertin für Sozial-und Arbeitsrecht. Spindler verfolgte die Diskussionen um die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe seit vielen Jahren. Auch die Maßnahmen von VW-Personalchef Peter Hartz bei Volkswagen in Wolfsburg waren ihr vertraut und sie weckten bei ihr wenig Begeisterung. In ihren Augen waren sie auf fragwürdige Weise durch die einflussreiche Marktstellung des Unternehmens durchgesetzt worden und nicht auf mittelständische Betriebe übertragbar. Spindler war als Kritikerin von neoliberaler Politik in Fachkreisen bekannt und in den Augen der Stiftung offenbar renommiert genug, dass man sie nicht übergehen wollte. Oder wollte man im Voraus sehen, wie Kritiker reagieren würden, um sich auf diese Kritik vorbereiten zu können?

Am 18. Juli 2002 schickten die Arbeitsmarktexperten der Stiftung, Frank Frick und Helga Hackenberg, an Spindler ein Positionspapier mit den Eckpunkten einer Reform von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Im Anschreiben mit dem Betreff »Arbeitslosen- und Sozialhilfe verschmelzen« fassten sie ihr Papier mit folgenden Worten zusammen: »Die Bertelsmann Stiftung plädiert darin für eine rasche Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einem neuen einheitlichen und steuerfinanzierten Integrationssystem. Nur so können Hilfestellungen zur Wiedereingliederung in Erwerbsarbeit mit gleichen Chancen für alle Langzeitarbeitslosen gewährleistet und optimiert werden. Dieses einheitliche Integrationssystem ist unbedingt notwendig, um Ungerechtigkeiten zu beseitigen und mit dem bisherigen ›Verschiebebahnhof‹ zwischen Arbeitsverwaltung und Kommunen Schluss zu machen.«

Die Arbeitsrechtlerin Spindler antwortete Frau Hackenberg und schickte ihr »ein paar Gegenargumente, die für die berechtigten Bürger schon eine Rolle spielen dürften«. Sie könne »eine Ungerechtigkeit im bisherigen System wirklich nicht erkennen, wohl aber, dass die sozialen Rechte von Bürgern immer weniger berücksichtigt werden und sich ihre materielle Lage immer mehr verschlechtert. Aber ich habe den Eindruck, dass das bei Ihren Überlegungen eine mehr nachgeordnete Rolle spielt.« Die Stiftung antwortete ihr nicht. Die heiße Phase lief. Man war damit beschäftigt, die Mitglieder der Kommission zu beeinflussen.

Wenn Günther Schmid heute nach dem Einfluss der Stiftung auf die Reformen im Arbeitsmarkt gefragt wird, verweist er auf ein Schaubild und einen Werkstattbericht mit dem Titel Management of Change in der Politik?, in dem er sich 2003 konkret mit den Reformen und seinen Erfahrungen als Berater des Kanzleramts beschäftigt hat. Schmid schrieb darin vom Gestalten durch wissenschaftliche Beratung im Bündnis für Arbeit und in der Hartz-Kommission. Grundlage war eine Tagung in Berlin im März 2003 wenige Tage vor Gerhard Schröders Regierungserklärung zur Agenda 2010. Schmids Beitrag handelt von den Mängeln der wissenschaftlichen Politikberatung und davon, wie »in Deutschland das herrschende Oligopol der Politikberatung durch einige Forschungsinstitute und große Stiftungen gebrochen werden kann«. Die Bertelsmann Stiftung nennt er darin nicht beim Namen, obwohl klar ist, dass er nur sie meinen kann. Schmid bestätigt das im Gespräch.

Im Mittelpunkt des Schaubilds, das Günther Schmid über die Akteure der Hartz-Kommission angefertigt hat, steht Peter Hartz. Von ihm gehen viele Linien zu den 14 Mitgliedern seiner Kommission, ins Kanzleramt, ins Wirtschaftsministerium, zur Geschäftsstelle der Kommission, zu den Ländern und Kommunen, zu den Sozialpartnern (wie IG Metall und ver.di), zur Presse und zur Bundesagentur für Arbeit. Mehrfach hat Schmid den Einfluss der Stiftung gekennzeichnet. Genaugenommen ist die Bertelsmann Stiftung der einzige Akteur, der mehrfach genannt ist und offenbar nicht nur an einer einzigen, sondern an vielen Stellen mit seiner Lobbyarbeit angesetzt hat – im Kanzleramt, in der Bundesagentur für Arbeit, im Wirtschaftsministerium, bei den Unternehmensberatungen wie McKinsey und natürlich in der Hartz-Kommission selbst. So ist die Stiftung die Institution, die alles zu verbinden scheint.

Und noch etwas ist auffällig: Alle anderen Verbindungen – ob zwischen Hartz und den 14 Mitgliedern seiner Kommission, zwischen Hartz und den Ländern, Hartz und dem Kanzleramt oder Hartz und dem Ministerium – hat Schmid mit Querstrichen belegt, die starke oder zeitweise Spannungen verdeutlichen sollen. Nur die Verbindungen, die zwischen der Bertelsmann Stiftung und den anderen Akteuren laufen, sind nicht gestört. Es sind feine durchlaufende gepunktelte Linien. Sie alle stehen für den Zugang, den sich die Stiftung in vielen Jahren erarbeitet hat. Schmid hat zur Erklärung und Beschreibung zwei Worte daneben geschrieben, die das Prinzip und Geheimnis des Einflusses und Erfolgs der Stiftung kennzeichnen: »persönliche Beziehungen«. Die Stiftung musste Hartz nicht für sich vereinnahmen. Indem sie zu fast allen Parteien, mit den Hartz arbeitete, Beziehungen geknüpft hatte, war sie immer involviert und nahm Einfluss.

Statt fünf wissenschaftlicher Berater wie im Bündnis, waren es in der Hartz-Kommission nur zwei – nämlich der Politik- und Verwaltungswissenschaftler Werner Jann und Schmid. Dieser sagt: »Ganz eindeutig überwogen die Unternehmensvertreter, darunter Interessensvertreter des professionellen und kommerziellen Change Managements« – gemeint sind neben Firmenvertretern von Deutscher Bank oder BASF die Beratungsagenturen wie McKinsey und Roland Berger.

Für die Finanzierung der Arbeit und der Publikation hatte sich die Bertelsmann Stiftung angeboten. Schmid sagt: »Das war taktisch sehr geschickt von ihr. Man kann auch sagen, sie hat sich reingedrängt. Ihre Mitarbeiter haben ihre Modelle und Überlegungen immer wieder ins Gespräch gebracht. Der Einfluss der Bertelsmann Stiftung auf die Hartz-Kommission und Hartz IV ist relativ stark. Vor allem hat die Stiftung das Weltbild der Kommissionsmitglieder geprägt.«8

Bertelsmannrepublik Deutschland: Eine Stiftung macht Politik
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