5. Hartz IV: Rezepte aus dem Hause Bertelsmann – Die Stiftung als Wegbereiter einer Arbeitsmarktreform
Im Februar 2002 wurde die Bundesanstalt für Arbeit von einem großen Skandal erschüttert. Die Hauptverwaltung der Behörde in Nürnberg stand an der Spitze von zehn Landesarbeitsämtern und 181 Arbeitsämtern. Die gesamte Behörde war mit mehr als 90 000 Mitarbeitern die größte Behörde Deutschlands und blickte 2002 auf eine fünfzig Jahre lange Geschichte zurück. Der Bundesrechnungshof löste den Skandal aus, nachdem er in fünf Arbeitsämtern die Vermittlungserfolge vom Oktober 2001 geprüft hatte. Er hatte die Arbeitsämter in Dortmund, Bremerhaven, Halle, Frankfurt an der Oder und Neuwied untersucht, um ein realistisches Bild zu erhalten. Sie wurden nach Größe und Ost/West-Verteilung ausgewählt und die Ergebnisse wichen nicht wesentlich voneinander ab. Die Prüfer untersuchten mehr als 5 000 Vermittlungen mit niederschmetterndem Ergebnis. Mehr als 600 Fälle blieben unklar, weil Daten gelöscht worden waren. Von den übrigen 4 400 Vermittlungen waren 3 008 fehlerhaft gebucht worden.
Der Rechnungshof kam zu dem Ergebnis, dass die Arbeitsämter deutlich weniger Arbeitslosen halfen, als sie angaben. Die Bundesanstalt hatte behauptet, dass sie im Jahr 2000 etwa 3,9 Millionen Arbeitsplätze vermittelt hätte. 50 Prozent der ehemaligen Arbeitslosen hätte sie damit eine Stelle vermittelt. Der Rechnungshof dagegen schrieb, dass nur 20 Prozent durch die Hilfe der Behörde vermittelt worden waren und 70 Prozent der geprüften Stellenvermittlungen falsch gewesen seien. Bei jährlich 3,87 Millionen Vermittlungen wären das hochgerechnet rund 2,7 Millionen Falschbuchungen. So hätten die im Oktober 2001 untersuchten Ämter viele Fälle als vermittelt gemeldet, ohne dass Bewerber einen Job gefunden hatten oder ohne dass die Behörden wussten, ob jemand eingestellt worden war.
Der Rechnungshof zweifelte folglich am Nutzen der 20 Milliarden Euro teuren Arbeitsmarktpolitik der Bundesanstalt. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt forderte »eine Reform an Haupt und Gliedern« und auch die Gewerkschaften forderten Reformen. Kritisiert wurde vor allem, dass nur 10 Prozent der 93 000 Mitarbeiter der Bundesanstalt in der Vermittlung arbeiteten. Der Chef der Behörde, Bernhard Jagoda, musste gehen. Sein Nachfolger Florian Gerster sagte im Spiegel: »Ich will den Totalumbau. Es geht nicht um eine Teilreform der Arbeitsverwaltung, sondern um eine grundlegende Sanierung der Arbeitsmarktpolitik.« Zunächst änderte er den Namen der Behörde. Aus der Bundesanstalt wird eine Bundesagentur. Das klingt weniger nach Behörde und mehr nach Dienstleistung. Das ist der neue Geist. Aber Gerster und Kanzler Schröder, der ihn eingesetzt hatte, brauchten nicht nur einen neuen Namen, sondern auch eine Strategie, und zwar schnell. Die Rezepte, auf die sie bauten, kamen aus dem Hause Bertelsmann, wo sie schon seit vielen Jahren in Arbeit waren.