76

Ich legte die Papiere weg. Das Fenster stand weit offen. Es war später Nachmittag. Endlich hatte ich alle Dokumente unterzeichnet, der Bürokratie war gedient. Draußen wurden die Überbleibsel des Hochzeitszuges weggeräumt. Ich hörte Müllautos, das Klappern von Absperrzäunen, die weggeschleppt wurden. Männerstimmen, die einander Befehle zuriefen. Die Landshuter Hochzeit war an mir vorbeigegangen, bisher jedenfalls. Den Huldigungsruf ›Himmel Landshut, tausend Landshut!‹ hatte ich nur von Weitem gehört. Mit einem Mal wollte ich dort hinauslaufen. Mich unter die Leute mischen, kostümiert oder nicht, und mich mit dem richtigen Leben verbünden, mit dem Leben, das gerade stattfand. Das keine Erinnerung war.

Nero klappte die Landshuter Zeitung zu. Irmas Todesanzeige stand unter der für Julika. Elizabeth Cohen fand das praktisch. Irma hätte es gefallen.

»Julikas Leiche ist freigegeben«, sagte Leitner. »Sie wird zusammen mit ihrer Großmutter beerdigt. Dann sind sie wenigstens im Tod vereint.«

Ich verkniff mir die Tränen. Mit nur einem Auge zu heulen war wirklich albern.

Ein Landshuter Augenarzt hatte mein Auge gerettet. Er hatte vier Splitter entfernt und das Auge verpflastert. Ich sah aus wie eine komische Figur, die sich Hoffnungen auf eine Statistenrolle in ›Fluch der Karibik‹ machte.

»Es sind drei Mörder«, sagte ich. »Gustav Kirchler hat Lisa umgebracht.«

Leitner qualmte wie eine Dampfmaschine der ersten Stunde.

»Die Kirchlerin hat unsere Julika auf dem Gewissen. Umgeleitete Eifersucht, die Jahrzehnte später ausbricht. Aber dennoch ein starkes Gefühl.«

»Jetzt weiß ich auch, warum der Typ, der mir zu Hause aufgelauert hat, so komisch gerochen hat. Das war Pferdestall-Aroma«, sagte ich.

»Kuznick ist dieses Jahr Knappe geworden. Na warte. Körperverletzung und Co. Das war’s dann mit einer Karriere als Hochzeiter. Wir nehmen hier nur anständige Kerle mit ins Boot.« Leitner drehte neue Tschicks, während die letzte Kippe ihm noch im Mundwinkel hing.

Ich betastete vorsichtig das dicke Gazepolster, das mein Auge vor böser Einflussnahme schützte.

»Und Julika? Wie kam sie an die CD? Hat sie die zufällig in diesem Haus gefunden?«

»Das können wir nicht mehr genau rekonstruieren«, sagte Nero. Während bei mir die Sehkraft vorübergehend zu Schaden gekommen war, hatte er aufgrund der Detonation Probleme mit seinen Ohren. Ab und zu schüttelte er seinen Kopf hin und her wie ein Elefant. »Aber eine andere Erklärung gibt es eigentlich nicht. Sie muss am Tag ihres Todes noch in dem alten Haus gewesen sein.«

»Spurenlesen können wir vergessen«, verkündete Yoo Lim. Sie sah von mir zu Nero und wieder zurück.

»Die Schauerhütte ist total pulverisiert«, nickte Leitner. »Der Hallhuber hat sich vom Krankenhaus mit dem Taxi zu seinem Grundbesitz fahren lassen. Schön deppert. Aber ich sage ja: Besonders hell auf der Platte war er noch nie.«

Ich betrachtete meine Tasche, die Yoo Lim im Wald für mich aufgesammelt und mir zurückgegeben hatte. Handy, Geld, Schlüssel, alles war noch drin. Außerdem die Kladden aus dem scheußlichen Schrank, den Kreuzkamp und ich durchwühlt hatten. Es fiel mir schwer, scheinheilig zu schauen, mit einem Auge. Also blinzelte ich mit dem unverpflasterten Lid.

 

Nero fuhr uns nach Hause. Nach Hause zu mir. Mein Alfa hatte dran glauben müssen. Der Schock darüber, dass mein geliebter Italiener einer Explosion zum Opfer gefallen war, steckte mir noch in den Knochen, aber im Vergleich zu meinem eigenen Leben und dem von Nero bedeutete der motorisierte Blechhaufen nichts.

»Wie geht es nun weiter?«, fragte ich.

»Unsere Schnittstelle ist Siegmar Hallhuber. Den werden wir ausquetschen, bis er quietscht. Wie ich ihn einschätze, plaudert er bald. Dann finden wir vielleicht einen von diesen Leuten, die das Haus gemietet haben. Und dann sehen wir weiter.«

»Hallhuber ist ein Weichei. Trieft vor Selbstmitleid.«

»Umso besser. Leitner wird ihn kleinkriegen. Wenn er es geschafft hat, trotz seines Asthmaschocks noch nach Niederaichbach zu fahren und seinen Kumpel umzupusten, kann er nicht ganz so schwach sein. Den Mord an Alfi Berger hat er gestanden. Sein Kumpel hat einfach ein bisschen zu eifrig eins und eins zusammengezählt. Er wusste wohl auch mehr von Hallhubers Business, als er Leitner gegenüber zugegeben hat.«

»Ist das nicht ein bisschen albern? Ein internationaler Phishing-Ring in Landshut?«

»Eben gerade nicht. Wir sind dran, einzelne Nester auszuheben. Das ist ja das Prinzip dieser Leute: Die sitzen irgendwo und basteln ihre Programme. Stellen die aber nicht an Ort und Stelle ins Netz, sondern speisen ihren Kram anderswo ein. Du kannst ihre Spuren im Internet kaum zurückverfolgen.«

»Und anschließend brechen sie ihre Zelte ab und schustern woanders neues Unheil zurecht?«

»So sieht es aus. Ihr neues Domizil werden sie kaum in Deutschland aufschlagen, eher irgendwo in Südamerika, Asien, was weiß ich.«

»Oder offshore.«

»Auch das ist möglich.«

»Wie geht es Kreuzkamp?«, fragte ich. Ich fand mich ziemlich waghalsig.

»Den Herrn hatte ich zwischenzeitlich auch mal auf dem Zettel. Er wollte unbedingt in Julikas Wohnung. Wusstest du das? Angeblich hatte sie noch Unterlagen von ihm.«

»Cary Grant ist harmlos, Nero!«

»Hattest du was mit ihm?«

»Nein, verdammt!« Ich lehnte meinen Kopf gegen das Fenster. Fast bereute ich meine eiserne Abstinenz. Die Chance war vertan. Das verletzte Auge pochte. Irgendwie musste ich Nero noch beibringen, was mich zu Kreuzkamp gezogen hatte. Er war einfach jemand, der meine Leidenschaft teilte: Die Leidenschaft für Geschichten und das Schreiben. Jemand, der wusste, wie es sich anfühlte, eine Story unter den Fingern entstehen zu sehen. Aber diese Erklärungen konnten warten.

»Yoo Lim ist lesbisch«, sagte Nero unvermittelt.

»Du spinnst! Nie im Leben!«

»Sie hat ein Mädchen auf den Mund geküsst.«

»Vergiss es. Das ist ihre Adoptivschwester.«

»Woher weißt du das?« Er wandte den Blick nicht von der Straße. Ich sah, wie sich seine Kinnmuskeln verhärteten.

»Weil dieses ›Mädchen‹, wie du sie nennst, gestern Abend in der Polizeidirektion vorbeikam, um Yoo Lim abzuholen. Ich stand draußen herum, frisch verpflastert. Die beiden begrüßten sich und Yoo Lim stellte mir ihre Schwester vor.«

»Würdest du deine Schwester auf den Mund küssen?«

»Ich habe keine Schwester. Scheint dir ja echte Probleme zu machen.«

Er zuckte nur die Schultern.

»Wenn wir gerade dabei sind«, neckte ich, »hast du versucht, ein Techtelmechtel mit ihr anzufangen? Hat sie dich abgewiesen? Verletzter Stolz, Herr Kommissar?«

»Nein.« Er sah mich kurz an. »Nein, Einauge.«

»Ziemlich infam«, sagte ich. »Irma ihr Leben lang glauben zu lassen, sie sei schuld an Lisas Tod.«

»Schreibst du Irmas Geschichte fertig?«

»Habe ich vor. Ich muss bloß noch ein paar Details ergänzen«, antwortete ich vage und dachte an die Kladden in meiner Tasche.

Wir schwiegen den Rest des Weges. Fuhren durch Ohlkirchen, das friedlich in der Abendsonne lag, auf meine Klause zu. Ich musste Juliane anrufen. Ich musste eine Menge Dinge tun. Erstmal nach den Gänsen sehen. Und dann ausruhen. Mein Auge schonen und ihm Gelegenheit zur Heilung bieten. Möglichst mit Nero an meiner Seite.

»Bleibst du ein paar Tage?«

»Könnte sein. Ich muss Woncka anrufen.«

»Deinen allgegenwärtigen Chef?«

»Geht nicht anders.«

Ich stieg aus und schloss auf. Von der Weide grüßten mich hocherfreut meine beiden Grauen.

 

 

E N D E

 

 

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