49
»Natürlich ist das Thema knifflig«, sagte Kreuzkamp und goss uns Kaffee nach. Ich hockte auf seinem indonesischen Sitzkissen und besah mir den Haufen an Unterlagen, den er im Laufe der letzten 30 Minuten vor mir abgelegt hatte. »Nazis, Kriegsgeneration.«
»Wenn Sie Ihr Buch veröffentlichen, kriegen Sie sofort eins aufs Maul«, erwiderte ich. »Das Thema ist zu belastet. Unser geschichtliches Erbe zu grässlich. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt, kann Ihr Verhängnis werden. Außerdem ist mittlerweile viel zu viel veröffentlicht worden. Die eine Fraktion wird sagen, Sie verharmlosen. Andere werden meckern, weil das Thema zum hunderttausendsten Mal aufgerollt wird.«
»Aber mir geht es nicht um Verbrechen, nicht um Schuld, nicht um Sühne. Mir geht es um das Vergessen!«, ereiferte sich Kreuzkamp. »Nicht um die historische Verantwortung unserer Generation. Nicht um das gesellschaftliche Bewusstsein. Nicht um die Frage, wie das alles passieren konnte. Ich will die Leute sprechen lassen, die es noch mitbekommen haben, aber die bald tot sein werden. Sie sind die letzten Zeitzeugen. Menschen wie Irma oder Gustav Kirchler. Es kann doch nicht verboten sein, sie ihre Erlebnisse erzählen zu lassen.«
»Verboten ist es nicht, aber Sie wissen, wie Öffentlichkeit funktioniert. Kritiker müssen was zu kritteln haben, und da bietet Ihr Buch genug Stoff.«
Kreuzkamp stöhnte. »Warum entmutigen Sie mich so?«
Ich hatte seine wenigen Kapitel, die halbwegs abgeschlossen schienen, gelesen. Mein Bauch sagte mir sofort: So wird das nichts.
»Wenn ich mal Kritikerin spielen darf: Das, was Sie bisher geschrieben haben, ist Wischiwaschi. Daraus geht Ihre Absicht überhaupt nicht hervor. Sie sagen, Ihr Thema ist das Vergessen. Dann schreiben Sie Ihren Text so, dass der Leser das merkt.«
Kreuzkamp lachte matt. »Diese Generation kann gar keine Täter mehr hervorgebracht haben. Die waren 18 bei Kriegsende. Als ich 18 war«, er seufzte theatralisch, »ging ich in die 12. Klasse und meine Mutter gab mir jeden Morgen die Cornflakes in die Schüssel.«
»So unterschiedlich können Leben sein.«
»Das ist es ja! Das interessiert mich.«
»Sie meinen: das Individuelle?«
»Oblivion«, sagte Kreuzkamp. »Warum schwinden Erinnerungen? Warum zerfällt das Gedächtnis? Schützt sich Irma vor etwas? Wenn ich mich nicht mehr erinnere – wer bin ich dann?«
Ich dachte an die vergangene Nacht, an den Morgen, den ich stundenlang verschnürt auf den Küchenfliesen gelegen hatte.
»Man kann nicht willentlich etwas vergessen«, sagte ich. »Unser Gedächtnis macht mit uns, was es will.«
»Ich habe recherchiert«, verkündete Kreuzkamp stolz. »Wollen Sie hören?«
»Nur zu!«
»Das Gedächtnis ist nicht ausschließlich an einer bestimmten Stelle in unserem Gehirn lokalisierbar. Es ist sozusagen überall. Es ist auch nicht einfach ein Speicher. Es funktioniert deshalb, weil jede Nervenzelle mit jeder anderen in Verbindung steht. Ein gigantisches Spinnennetz aus Fäden, auf denen Informationen hin und her rasen. Jede Stimulation von außen verursacht Veränderung, Bewegung, Aktivität. Und auch Stimulation von innen! Wenn wir uns etwas vorstellen, dann beeinflusst das unser Gehirn. Ist das nicht großartig?«
»Aber Erinnerung funktioniert nicht nur in jedem einzelnen Kopf«, widersprach ich. »Sie ist eine Angelegenheit aller. Wenn wir in unserer Gesellschaft die Erinnerung an die Millionen ermordeter Juden und anderer Opfer des Naziregimes hochhalten, hat das wenig mit Gehirn zu tun, sondern mehr mit Verantwortungsgefühl oder dem gemeinsamen Bewusstsein von Schuld.«
»Sehr weise.« Kreuzkamp trank seinen Kaffee aus und wühlte in den Papieren. »Noch ein Aspekt ist wichtig: Wir sind mit Erinnerung völlig übersättigt. Ich suche jemanden, der mich lehrt, zu vergessen. Überall umflattern uns Informationen, Daten. Mein Kopf ist überfordert.«
»Das ist keine Erinnerung, was Sie meinen. Das ist …«
Kreuzkamp unterbrach mich: »Korrekt, und dieser Gedanke fasziniert mich: Die Erfindung der Schrift hat das Gedächtnis zerstört. Wir können alles konservieren. Und daher brauchen wir uns an nichts mehr zu erinnern. Nicht wie die schriftlosen Kulturen, die ihre Mythen und ihr gesamtes kollektives Bewusstsein mündlich weitergeben. Die haben noch ein gutes Gedächtnis. Aber wir …«
Er rührte am springenden Punkt: In unserer virtuellen Welt war authentische Erfahrung ein kostbares Gut geworden, sodass ich mich ab und zu dabei ertappte, Irmas Generation zu beneiden.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
Es klingelte an Kreuzkamps Tür. Er sah mich verschmitzt an.
»Klingt nach Theaterstück, oder? Regieanweisung. Es klingelt an der Tür.«
»Erwarten Sie jemanden?« Mein Herz schlug zum Zerspringen. Wieder Erinnerung. Jemand hatte an meiner Tür geklingelt.
»Nein!« Ratlos sah Kreuzkamp zur Wohnungstür, stemmte sich vom Boden hoch und ging öffnen.
Ich rutschte mit dem Hintern an die Wand und lehnte mich an den Heizkörper. Zur Not konnte ich aus dem Fenster springen. Aus dem ersten Stock, aber egal.
Kreuzkamp kam mit einer Frau zurück. Sie mochte um die 50 sein, trug das Haar lang und offen. Getöntes Haar. Zu kastanienbraun, um echt zu sein.
»Linda Offenbach«, stellte Kreuzkamp vor. »Das ist Kea Laverde. Eine Kollegin.«
Linda Offenbach nickte mir unsicher zu. Ich stand auf und drückte ihr die Hand.
»Sie schreiben doch diese Geschichten auf«, sagte Linda zu Kreuzkamp und musterte die Sitzkissen. Anscheinend hatte sie Angst, er würde sie auffordern, Platz zu nehmen. »Ich wollte Ihnen sagen: Das wird plötzlich ein Thema in der Stadt.«
»Was meinen Sie?« Wieder trat der typische Ausdruck von Verwirrung in Kreuzkamps Gesicht, der so verdammt an Cary Grant erinnerte: ein paar sehr dekorative Falten auf seiner Stirn.
»Weil die Julika nämlich auch herumgefragt hat«, sagte Linda. »Das war eine eigenartige Sache. Die meinte, wenn Hochzeit ist, dann kennt Landshut ja keinen anderen Gesprächsstoff. Dann ist für etwas anderes keine Zeit.«
Ich verstand nur Bahnhof.
»Möchten Sie Kaffee?«, fragte Kreuzkamp.
»Nein, danke. Meine Mutter war auch so eines«, sagte sie. »Eines von den Kriegskindern. Für die Sie sich interessieren. Julika war bei uns. Der Polizei habe ich das nicht gesagt. Sie hat lange mit meiner Mutter gesprochen. Der Julika ging es nahe, dass ihre Großmutter abbaut. Richtig leidenschaftlich hat sie sich um die Irma gekümmert, hat herumgefragt wegen Plätzen im Pflegeheim. Hat sich dann anders entschieden. Wollte dafür sorgen, dass Irma nach Regensburg kommt, in eine Wohngemeinschaft für Demenzkranke. Sie wollte sogar selber nach Regensburg ziehen, dort studieren ab dem Herbst, damit sie in Irmas Nähe sein konnte. Die Julika hat für ihre Großmutter ihr ganzes Leben umgekrempelt.«
Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Sah die Tribünen, die Absperrungen. Ein Trupp Musikanten gab ein Ständchen vor dem Rathaus.
»Ich habe das für meine Mutter nicht gemacht«, sagte Linda Offenbach.
»Was ist mit Ihrer Mutter?«, fragte ich.
»Sie ist gestorben. Vor zwei Wochen. Ich mache mir Vorwürfe. Ich habe nie auf sie geachtet. Ihre Geschichten nicht hören wollen.«
Das ist ganz normal, dachte ich. Dafür braucht es die Enkelgeneration. Die stellt die Fragen.
»Julika kam kurz nach Mutters Beerdigung zu mir. Sie fragte mich allerlei. Über eine Lisa. Und Sie«, sie sah mich an, nicht Kreuzkamp, »tun ja wohl dasselbe, ja?«
»Woher wissen Sie das?«
»Das erzählen die Leute. Die Traudl Niebergall ist eine Klatschtante, bei der ist kein Geheimnis sicher. Wenn Sie was unter die Leute bringen wollen …« Sie sah mich mit schiefgelegtem Kopf an. »Sie sind auch keine Erbenermittlerin!«
»Was erzählen sich die Leute?« Ich trat auf Linda Offenbach zu und sah ihr fest in die Augen. Braune Augen. Die Iris verschwamm mit dem Weiß ihres Augapfels.
»Dass Sie nachforschen, weil es einen Mord gegeben haben soll. Damals. 1945.«
»Ach was«, wiegelte Kreuzkamp ab. »Die Landshuter sind durcheinander. Ein Mord zur Hochzeit und dann auch noch eine alte, aufgewärmte Geschichte …«
»Die Traudl kennt ihren Bruder durch und durch. Der Kirchler ist ein Fuchs. Dem traut die eigene Schwester nicht. Ich traue ihm auch nicht. Meine Mutter war in seinem Alter. Die hat mir einmal erzählt, wie der Kirchler, als er ein Jugendlicher war, den Mädchen an die Wäsche ist. Kleineren Mädchen. Die waren keine zehn.«
Ich wechselte einen Blick mit Kreuzkamp. »Hat Julika Ihre Mutter auch nach Lisa gefragt?«
»Natürlich. Das war der Grund, warum sie mit meiner Mutter sprach. Sie wollte die Geschichte ihrer Großmutter rekonstruieren. Irma erzählte Julika nicht alles. Nur, dass Lisa tot war. Julika wollte wissen, wie sie gestorben ist.«
Julika, davon war ich überzeugt, hatte den richtigen Riecher gehabt. Hatte gespürt, wie Irma mit dieser Lisa in Verbindung stand. In einer Verbindung, die auch durch Lisas Tod nicht gelöst worden war.
»Meine Mutter hat immer mal wieder gesagt, wenn die Rede darauf kam: Die Lisa ist ermordet worden. Doch dann fügte sie stets hinzu: Aber im Krieg, da ist jeder Tod ein Mord.« Linda Offenbach liefen die Tränen über die Wangen. Ich dachte an Chrissie Brehms warme Arme. Streckte die Hand aus und strich Linda über den Arm. Aus den Augenwinkeln sah ich Kreuzkamp. Vermutlich setzten sich die Mosaiksteine auch in seinem Kopf zusammen.
»Meine Mutter und Irma, die waren sich nicht grün. Als Mädchen, da haben sie nichts miteinander anfangen können. Aber im Alter wird man milde und beginnt, die Dinge anders zu sehen. Konkurrenz und Männer spielen ja dann nicht mehr so die Rolle.«
»Ihre Mutter konnte Julika also ein paar Tipps geben?«, schaltete Kreuzkamp sich ein.
Meine Güte, wie bekam der Mann nur diesen exakten Scheitel hin.
»Als die Irma aus den USA zurückkam, hat sie eine Weile nicht in Landshut gelebt. Vielleicht ein halbes Jahr nicht. Da war sie in Niederaichbach. Hat mit ihrem Kind bei einer Bauernfamilie gewohnt. Weil sie es unter dem Dach ihres herrschsüchtigen Vaters nicht ausgehalten hat, ist die Irma da hingezogen. War schlimm genug für sie, in seinem Friseurladen arbeiten zu müssen.« Linda Offenbach wischte sich mit Nachdruck die Tränen von den Wangen. »Das Forsthaus steht noch. Ein wenig außerhalb von Niederaichbach. Nicht weit von der Isar. Halb verfallen ist es, eine Schande.«
»Und Julika? Ist sie hingefahren?«
»Ja, sie hat sich dort umgesehen.«
»Und?«
»Dann ist sie ermordet worden.« Linda zog scharf die Luft ein. »Was für ein entsetzliches Verbrechen. Ein so junges Mädchen. Die arme Irma! Sie kann das nicht mehr ertragen. Sie verliert alle, die sie liebt.«