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Man möchte nur vergessen. Nichts als vergessen. Ein Leben lang. Glücklich ist, wer vergisst. Erinnerung tut weh. Ein Stachel im Fleisch. Das ist so ein Bild, das mich überzeugt hat. Etwas tut weh, aber du wirst es nicht los. Du kapselst es ab und vergisst es. Und du bist frei.
Natürlich kannte ich die Irma schon, als ich jung war. Irma ist eine Nette, vielleicht manchmal ein bisschen forsch. Sie hat viel für unsere Stadt getan. Mit ihr kam ich aus. Mit der Lisa allerdings nicht.
Die Lisa aus München! Was hat die sich eingebildet! Wer sie ist und wie wunderbar sie ist. Weil sie aus München stammte. Die Irma war ihre große Liebe. Wie eine Schwester! Irma und Lisa. Damals hat man darüber nicht geredet. Heute würden alle sagen, die waren lesbisch. Aber ich bin sicher, das waren sie nicht. Sie hingen nur aneinander. Die Lisa hat den Vater verloren und die Irma hatte nie einen. Diesen Despoten kann ja wohl keiner einen Vater nennen! Der Alte hat beim Rasieren seinen Kunden das Messer an den Hals gedrückt und ihnen gedroht, wenn sie dies und das nicht tun, dann … einem hat er mal den Rasierpinsel in den Mund gestopft und ihn fast ersticken lassen. Der hatte sie nicht mehr alle.
Die Mütter waren auch nicht da. Körperlich waren sie anwesend, aber die haben uns Kinder nicht in die Arme genommen oder sich für unsere Gefühle interessiert. Meine war genauso. Die meinten es nicht böse. Die konnten nicht anders! All die Sorgen, die Ehemänner weg, tot, vermisst oder Tyrannen. Da haben wir Kinder uns die Liebe woanders geholt. Die Irma hat die Lisa immer beschützt. Ich war wütend. Ich hätte die Irma nämlich auch gern zur Freundin gehabt. Um ehrlich zu sein: Ich war eine ganze Weile ihre Freundin. Irmas beste Freundin. Wir haben alles gemeinsam gemacht. Steckten ununterbrochen zusammen, bis die Lisa auftauchte. Da war ich dann abserviert. Plötzlich war ich für die Irma einfach nicht mehr interessant! Ich war so ein Krisperl. Ein dünnes, schwächliches Mädchen. Bei dem Hunger und dem Mangel an allem im Krieg, da konnte ich nichts zusetzen. Solange ich mit der Irma herumzog, habe ich mich stark gefühlt. Die Irma hatte vor nichts Angst! Die hat sich mit den Jungen geprügelt, wenn es sein musste. Aber als die Irma sich nur noch mit der Lisa befasst hat, stand ich plötzlich dumm da. Und einige aus der Stadt haben sich erinnert, dass sie mit mir noch nicht fertig waren. Ich hatte keine leichte Zeit.
Die Lisa also. Die hat ja dem Gustav schöne Augen gemacht. Sie tat schüchtern und vornehm, aber in Wirklichkeit war sie durchtrieben! Der Gustav konnte sich noch nie beherrschen. Wenn es um ein schnelles Vergnügen ging, meine ich. Schon als junger Bursche nicht. Je älter er wurde, desto weniger konnte er widerstehen. Da hat er der Lisa mal ein Angebot gemacht. Die Lisa, die lebte ja bei der Irma, neben den Kirchlers. Der Gustav hatte die Lisa jeden Tag vor Augen.
Und dann ist was passiert. Die Lisa kam vom RAD nicht mehr heim. Die Irma kam, die Lisa nicht. Niemand hat gefragt. Der Irma ging es hundsmiserabel. Sie hatte eine entzündete Wunde am Arm. Hohes Fieber. Sie wäre beinahe abgekratzt. Obwohl ich mir gleich gedacht habe, die schafft das. Der Irma konnte nichts was anhaben!
Der Gustav kam damals angelaufen. Hat gesagt, dass Lisas Leiche an der Straße liegt. Die Irma hat sich noch heimgeschleppt. War vollkommen fertig. Heutzutage hätte man sie zum Psychologen geschickt. Damals musste jeder von uns sich seinen Weg suchen, mit den Dingen umzugehen. Vielleicht ist die Irma heute dement, weil sie zu viele Filter um sich herum aufgebaut hat. Die wollte zu viel vergessen. Also hat ihr Kopf ganz von selbst damit angefangen.
Nein, niemand hat die Irma genauer gefragt, was eigentlich los war. Damals sind so viele Leute umgekommen. Man hat Lisas Leiche heimgebracht. Ihre Mutter ist darüber zerbrochen. Ist bald, nachdem die Amis hier waren, nach München zu ihrer Schwester zurückgegangen. Und die Irma hat weitergemacht. Hat sich erholt, für die Amerikaner gedolmetscht. Dann hat sie ihren Ami geheiratet und ist weg. Bis sie wiederkam. Mit einem Kind. Elizabeth. Das sagt alles, oder? Dass sie ihrer Tochter den Namen ihrer besten Freundin gegeben hat.
Erst Jahrzehnte später, unsere Kinder waren längst aus dem Haus, hat der Gustav mir erzählt, wie alles gekommen ist. Dass er die Lisa getötet hat. Aber er hat es nicht gewollt! Das müssen Sie ihm glauben! Er hat sich selbst schützen wollen. Und die Irma und letztlich auch die Lisa. Er hatte Angst vor dem Neugruber. Das war ein Spinner, dem war nicht zu trauen. Der hätte die beiden Mädchen ohne Zögern umgebracht. Schneller als ein Auge hätte zwinkern können. Der Gustav hat nicht einmal bemerkt, dass die Lisa mit der Nase im Wasser lag. Immer und immer wieder hat er mir das gesagt. Ich glaube ihm. Er ist mein Mann. Für mich war es ein glücklicher Zufall, dass die Lisa nicht wiederkam. Sonst hätte der Gustav sich über kurz oder lang für sie entschieden. Da mache ich mir keine Illusionen. Mit der Lisa konnte ich nicht mithalten.
Mit der Irma hatte ich dann von Zeit zu Zeit zu tun. Sie hat sich in Landshut in alles eingemischt. Auch in die Hochzeit. Für unsere Landshuter Hochzeit hat sie viel gemacht. Das kann ich anerkennen, keine Frage. Doch mit ihr noch mal auf du und du, das war nicht mehr drin. Nicht für mich.
Aber dann kam ihre Enkelin her: Julika.
Die hat mich sofort an die Lisa erinnert. Mit dieser hellen Haut und den schönen Haaren. Als ich sie das erste Mal sah, da dachte ich: Das ist die Lisa. Ein ganz seltsamer Augenblick. Als wäre ich wieder selber jung, wäre zurück in dieser schrecklichen Zeit.
Die Julika hat ihre Nase in alles reingesteckt. Sich für Lisas Tod interessiert. Die hat den Enkel vom Neugruber gefragt und ein paar andere Leute, die kam mit vielen zusammen. Wie sie überhaupt auf die Lisa, auf die Geschichte um ihren ungeklärten Tod gestoßen ist, das konnte ich mir zuerst nicht erklären. Aber ich glaube, es hat mit der Irma zu tun. Die Julika hat gespürt, dass ihre Oma an einer alten Geschichte litt. Sie hat rausgekriegt, worum es in etwa ging. Aber sie hat nicht alles erfahren. Nur Ansatzpunkte. Hat wohl nicht an Irmas Schuld geglaubt. Deshalb hat sie zu schnüffeln angefangen. Hat auch den Gustav angequatscht. Das habe ich natürlich mitgekriegt. Die Lisa auf unserem Hof – das war ein Albtraum für mich. Pardon, es war ja nicht die Lisa, es war die Julika. Wissen Sie, ich habe in der Julika immer nur die Lisa gesehen. Darum ist es ja gut, wenn sie jetzt tot ist, die Julika. Endlich Ruhe.
Irgendwie hat sie herausgefunden, was wirklich passiert ist. Dass der Gustav die Lisa auf dem Gewissen hat und die Irma sich ihr Leben lang umsonst die Schuld an Lisas Tod gegeben hat. Die Julika hat in dem alten Forsthaus spioniert. Plötzlich habe ich Angst gekriegt. Mord verjährt doch nicht.
Also bin ich ihr nach. Habe sie an der Bergstraße aufgehalten. Ich habe sie gefragt, was sie vorhat. Sie hat mir alles gesagt, hat mich angeschrien. Währenddessen ist sie vor mir hergelaufen, hinauf zur Burg. Sie hat mir vorgeworfen, Leute wie wir, der Gustav und ich, wir wären an der Krankheit von der Irma schuld. Wir hätten sie ins Vergessen getrieben. Weil die Irma den Gedanken nicht ertragen konnte, dass sie selbst die Lisa umgebracht hat. Deswegen musste sie einfach vergessen, und jetzt wäre sie krank.
Mag sein, dass das stimmt. Vielleicht war das so. Und in dem Augenblick habe ich gedacht: Wenn die Julika den Gustav damit konfrontiert, der gibt alles zu. Nur damit Frieden ist. Der Gustav und ich, wir sind alte Leute, wir leben ja nicht mehr lang. Soll er denn in diesem Leben noch bezahlen?
Wir standen da, die Julika und ich, und plötzlich kamen ein paar Gaukler in der Nähe vorbei. Und ich habe die Julika gebeten, leise zu sein. Damit die uns nicht hören. Die Julika bekam Angst. Mein Gott, diese Ähnlichkeit mit der Lisa! Fast wie ihre Zwillingsschwester sah sie aus. Und plötzlich ist es passiert. Ich habe die Julika gepackt und ihr den Mund zugehalten. Sie hat sich gewehrt, sie war kräftig, kräftiger als ich, aber sie ist über ihr Kleid gestürzt, lag mit der Nase in der Pfütze. Ich habe mich auf sie gestellt. Sonst hätte ich das nicht geschafft. Habe mich einfach auf ihren Nacken gestellt. Ein paarmal nachgetreten. Das war es dann. Meine Mutter hat oft gesagt, dass ein Übel das nächste sät, und wenn man für das erste nicht bezahlt, das man angerichtet hat, dann wird man später für viel mehr bezahlen. Aber so ist es dann eben.
Unterzeichnet Gerda Kirchler.