21
Nero ging zwischen Leitner und Yoo Lim Pak über die Luitpoldbrücke. Leitner bewegte sich wie ein alter Puma vorwärts: geschmeidig und schwerfällig zugleich, leicht vornübergebeugt.
»Der Neugruber Herbert ist ein Fuchs«, sagte Leitner. »Einer, dem man nichts glauben kann. Hing oft in krummen Geschichten drin. Ein begabter, kluger Kopf. 30 Jahre jung. Hat schon als Bub den ersten Scheiß gebaut.«
»Sein Großvater, Martin Neugruber, war einer der Nazigrößen der Stadt Landshut«, mischte Yoo Lim sich ein.
Nero sah sie von der Seite an.
Ihre Augen blitzten angriffslustig. »Ortsgruppenleiter. Angeblich hängt bei den Neugrubers auf dem Speicher noch heute ein Hitlerbild.«
»Schmarrn«, gab Leitner zurück. »Die Bilder haben sie damals alle im Garten vergraben, als die Amis kamen.«
Sie bogen zur Mühleninsel ab. Wieder brach die Sonne durch die Wolkendecke.
»Martin Neugruber ist nach dem Einmarsch der Amerikaner von zwei Soldaten aus dem Haus geführt worden. Nach ein paar Tagen kam er zurück. Wurde entnazifiziert und war ziemlich schnell auch für die Besatzer tätig. Als Kammerjäger«, verkündete Yoo Lim.
Nero lachte auf. »Als Kammerjäger?«
»Ja, sein Sohn Peter hat das Geschäft übernommen. Der alte Neugruber ist 1994 gestorben. Ich glaube, die Fußwallfahrt nach Maria Brünnl hat nicht allzu viel bewirkt. Dort wird für schönes Wetter gebetet«, erklärte sie Nero. »Nicht nur wegen der Schnupfengefahr für die Gäste; es geht vor allem um die wertvollen Kostüme. 1971 sind sie schon einmal nach einem Wolkenbruch davongeschwommen.«
»Das war ein Wasserrohrbruch«, widersprach Leitner. »Gib nicht so an! 1971 bist du noch in Abrahams Wurstkessel geschwommen.«
Nero sah in die schlammige Isar. Ein gekrümmter Baumstamm trieb vorüber, er sah aus wie eine Seeschlange. Drüben am anderen Ufer lungerte ein Mann, der ihm bekannt vorkam. Er kniff die Augen zusammen. Eine Frau stand vor dem Mann. Eine Frau mit einem Hut. Hinter den beiden erstreckte sich die Silhouette von Landshut. Beschaulich, einladend, heiter, trotz des miserablen Wetters.
»Wenn der Regen nicht bald aufhört, fällt uns das Lagerleben und alles ins Wasser«, sagte jemand, der ihnen entgegenkam.
Nero blieb auf dem Ludwigswehr stehen. Yoo Lim redete und redete. Leitner brummte einsilbig dazu. Der Fluss stürzte tosend in die Tiefe, wenige Meter, aber die Wassermassen übertönten jede menschliche Stimme. Die beiden Kollegen gingen weiter. Nero starrte über den Fluss. Kea? Konnte das Kea sein? Verdammt, wenn die Sonne durch die Wolken lugte, blendeten ihn die Lichtblitze im Wasser. Er sah, wie die Frau davonging, und da erkannte er sie. An dem leicht wiegenden, resoluten Gang, weiblich, aber doch sehr geradlinig. Eine Frau, die wusste, wohin sie wollte.
»Keller? Wo bleiben Sie denn!« Leitners Stimme. Laut, durchsetzungsfähig, kraftvoll. Nero ging weiter, fühlte die Gischt auf seinem Gesicht.
»Ich komme.«
Er schloss auf.
Leitner und Yoo Lim besetzten einen Tisch unter einem Paulaner-Sonnenschirm und sahen sich ungeduldig nach ihm um. In Neros Kopf blitzten Fragen über Fragen auf und verloschen, ein Sturm an Bedenken, Verdachtsmomenten, Ängsten.
Wieder brach die Sonne durch. Es war schwül.
Der Hauptkommissar bestellte Mineralwasser für alle. »Die Katzenbacherin kümmert sich um Julikas privates Umfeld«, sagte er. »Aber viel zu holen wird dort nicht sein. In Landshut hatte sie nur ihre Großmutter.«
»Wie hat Irma auf die Nachricht reagiert?«, fragte Yoo Lim.
Nero fand sie ebenso einfühlsam wie tatkräftig. Eine Kollegin, die ihren Weg machen würde, so viel war klar. Kea! Kea war in Landshut und hatte sich an der Isar mit einem Mann getroffen. Was lief da? Er nahm gierig sein Glas entgegen und trank es in einem Zug zur Hälfte leer.
»Scheißwetter«, beschwerte sich Leitner. »Ich fürchte, Irma hat es nicht so ganz verstanden. Sie hat mich angesehen, ziemlich lange, ohne ein Wort zu sagen. Bin mir nicht sicher. Als wenn sie die Geschichte für sich geprüft und dann für falsch befunden hätte. Als wollte sie sie nicht glauben.«
»Weil es zu grausam ist!«, erwiderte Yoo Lim. »Niemand will so etwas hören.«
»Sie meinen, Irma Schwand schafft sich ihre eigene Realität?«, fragte Nero, um auch etwas beizutragen. Was bedeutete es schon, wenn Kea in Landshut einen Mann traf. Nur: So, wie vorhin, dort am Flussufer … die Eifersucht raste durch seinen Magen, der sich sofort zusammenkrampfte. Rasch trank Nero noch mehr Wasser und spürte, wie sich der Schmerz verstärkte. Er wollte mit ihr dort am Fluss sitzen und träumen. Wobei er nicht wirklich wusste, wie man das machte: tagträumen. Kea zog ihn damit auf, dass er sich nicht einfach treiben lassen, in den Tag hineinfallen konnte, dass er stets nach Aufgaben suchte, nach Dingen, die zu tun, zu erledigen waren. Nero war ein Mensch, der mit seinem Tag nur dann zufrieden war, wenn er abends etwas vorzuweisen hatte. Da schlug die alte Erziehung durch. Schaff was, Bub, stiehl dem Herrgott nicht den Tag. Kea konnte darüber nur lachen.
»Ich kenne Irma sehr lange«, riss Leitner ihn aus seinen Gedanken. »Sie ist eine starke Persönlichkeit, die das Leben der Stadt Landshut seit ihrer Rückkehr aus den USA mitgeprägt hat wie keine zweite. Sie hat die Landshuter Hochzeit über Jahrzehnte begleitet und gestaltet. Der Irma nimmt so leicht niemand die Butter vom Brot. Aber seit ungefähr einem Jahr hat sie sich verändert. Sie ist zögerlich geworden. Redet manchmal blödes Zeug. Gut im Flunkern war sie immer, aber mit einem Mal sind ihre Sprüche sehr, wie soll ich sagen, unrealistisch geworden.«
»Verstehe ich nicht«, gestand Nero und zwang sich mit aller Macht, jeden Gedanken an Kea abzuschalten. Nicht jetzt. Heute Abend kannst du an sie denken, sie anrufen, sie sehen, aber nicht jetzt. Jetzt ist Arbeit.
»Sie fuhr bis vor einem Jahr noch Auto. Dann hatte sie einen seltsamen Unfall. Es war bei einem Fest in Iltisberg. Sie hatte dort geparkt, in der Nähe des Sportplatzes. Da waren die üblichen Wurstbuden aufgestellt, und es räucherte mächtig in den Nachthimmel. Als Irma aus ihrer Parklücke herausfuhr, rückwärts, rutschte ihr der Wagen in eine Baugrube.«
»Kann passieren.«
»Aber so weit hätte sie gar nicht zurückstoßen müssen, um aus der Parklücke herauszukommen und auf die Straße zu fahren. Das waren mindestens sieben, acht Meter, die sie rückwärts fuhr.«
»Außerdem war die Baugrube abgesichert«, mischte Yoo Lim sich ein. »Mit Baken und einem rot-weißen Band. Sie hat alles umgemäht und das Heck in die Grube gesetzt.«
»Das Befremdliche war nur«, machte Leitner weiter, »dass sie uns nachher, als wir sie rausschleppten, erzählte, die Bratwurstbuden hätten dermaßen geräuchert, dass sie nichts gesehen hätte.«
Nero lachte.
»Klingt lustig, oder?« Leitner nahm seine Haxe in Empfang. »Solches Zeug hat sie in letzter Zeit oft erzählt. Am Anfang haben wir darüber gelacht. Aber nach einer Weile merkt man, wo der Hase läuft. Da hätte schon ein Munitionsdepot auf der Festwiese abfackeln müssen, um den Parkplatz im Rauch abtauchen zu lassen.«
»Zwischen den Wurstbuden und dem Parkplatz lagen mindestens 200 Meter«, bestätigte Yoo Lim. Ausgehungert stürzte sie sich auf ihre Forelle.
Auch Nero hatte Fisch bestellt, aber das trübe Wetter, Keas Silhouette am anderen Isarufer und die Geschichten, die die beiden anderen ihm auftischten, schlugen ihm auf den Magen.
»Nun essen Sie endlich, Kollege«, zog Leitner ihn auf. »Hilft ja alles nichts.«
»Irma war bei meiner Mutter zu Besuch. Meine Mutter«, Yoo Lim lächelte Nero an, »ist auch im Besetzungsausschuss für die Landshuter Hochzeit. Jedenfalls, meine Mutter hat Fotos von früheren Hochzeitern an der Wand hängen. Sie sammelt sie alle. Braut und Bräutigam zu sein ist eine besondere Ehre, wissen Sie. Das Hochzeitspaar darzustellen, ist echten Landshutern vorbehalten. Geburtsbonus. Die beiden müssen durch eine harte Schule. Die Proben fressen eine Menge Zeit, tanzen, sogar reiten müssen sie können. Irma betrachtete die ganze Ahnengalerie der Hochzeiter, beugte sich schließlich über ein Bild, das vor zwölf Jahren geschossen wurde und Georg den Reichen zeigt. Darauf fragte Irma: ›Ist das nicht der alte Adenauer?‹«
Nero, der sich gerade die erste Gabel Forelle in den Mund hatte schieben wollen, hielt inne.
»Übel, was?«, sagte Leitner. »Aber so ist das Leben. Irgendwie muss man durch.« Er hatte seine Haxe bereits verschlungen. »Also, die Katzenbacherin kümmert sich um alles, was mit Julika zu tun hat, und ich werde versuchen, noch einmal mit Irma zu sprechen. Aber ehrlich gesagt, von ihr ist nicht viel Hilfe zu erwarten. Was auch immer sie uns sagt, wir können nicht davon ausgehen, dass es der Wahrheit entspricht.«
Was ist Wahrheit, dachte Nero und kaute auf seiner Forelle herum. Und vor allem: Wer glaubt einem schon die Wahrheit. Der Fisch schmeckte nach nichts. Nero legte die Gabel weg.
»Haben wir Ihnen den Appetit versaut?«, kommentierte Yoo Lim spöttisch. Nero fragte sich, welche Geschichte diese asiatische Landshuterin mitbrachte. Adoptivkind? Eingewandert? Ausgesetzt?
»Sie müssen für uns die Ermittlungen in der digitalen Welt strukturieren«, fuhr die junge Kollegin fort. »Alle digitalen Bewegungen von Herbert Neugruber verfolgen, und wir brauchen Informationen, welche Gruppen oder Einzelpersonen ähnliche Programme zusammengeschustert haben wie das, das wir bei Julika gefunden haben.«
»Hat mein Kollege, Markus Freiflug, Ihnen die passenden Infos noch nicht gemailt?« Nero fühlte sich müde, so müde.
»Doch, aber die waren so ausführlich, dass wir erst einmal einen Überblick gewinnen müssen. Ich habe einige Sachen angemerkt, die mir wichtig erschienen, aber ehrlich gesagt, bei der Fülle an Material …«
Sie erwartet, von mir etwas zu lernen, dachte Nero. Kluges Mädchen. Ihre Karriere wird sie machen. Wenn sie kein Kind kriegt. So ist das heutzutage. Vor allem bei der Polizei. Entweder das eine oder das andere.
Er selbst hätte alles für eine Familie gegeben. Die ganze Karriere sofort abgebrochen. Von seinen Ersparnissen oder Aushilfsjobs gelebt. Von Jahr zu Jahr bedeutete ihm sein Beruf weniger. Die idealistische Vorstellung, als Kriminaler Gut und Böse voneinander scheiden zu können, die Tabus hinter den Verbrechen zu begreifen, hatte er längst zu den Akten gelegt. Seine Zunft mühte sich damit ab, die Ordnung wenigstens oberflächlich zu erhalten, damit das gesellschaftliche Leben nicht vollkommen aus dem Ruder lief. Mehr war nicht zu schaffen.
»Was wollte eigentlich der Reporter von Ihnen?«, wandte Nero sich an Leitner.
»Der Vogel! Will in Julikas Wohnung, weil die angeblich Unterlagen von ihm hat. Übrigens: Elizabeth Cohen, Julikas Mutter, kommt in zwei Tagen nach Landshut. Bis dahin müssen wir etwas vorzuweisen haben«, sagte Leitner. »Irma kann ihre Enkelin vielleicht identifizieren, aber Sie wissen ja … und ich will ihr das auf keinen Fall zumuten. Die Medien bringen morgen einen Aufruf an mögliche Zeugen, sich bei uns zu melden. Am besten schaffen wir heute noch so viel wie möglich weg, bevor die Telefone glühen.«