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Bajuwarisch geradlinig. So würde ich den Mann beschreiben, der vor mir in seiner Haustür stand, in ausgeleierten Hosen und einem blitzsauberen, weißen Hemd unter den Hosenträgern.
»Was wollt’s?«
Seinen Hof hatte er mit Sicherheit im Griff. Stockrosen blühten vor dem Haus. Irgendwo hörte ich Kühe muhen. Über allem lag der Duft von Landleben und befriedigender Arbeit, die man mit den Händen verrichtete und nicht mit den Fingern auf einer Tastatur.
»Servus, Kirchler«, sagte Kreuzkamp. »Hast du ein paar Minuten?«
»Nein.« Er bohrte die Hände in die Hosentaschen. Ein glattes Gesicht, sorgsam rasiert. Eine Hakennase, freundliche, wachsame Augen. Jemand, der sich zum Überlegen noch Zeit nahm. Das weiße Haar stand borstig um seinen Kopf. »Ich hab zu tun. Siehst doch, was hier los ist. Auf einem Hof ist nie Ruhe. Kein Feiertag. Das Vieh braucht dich. Mein Sohn ist mit seinen Kindern bei der Probe. Alte Tradition, weißt ja. Die Kirchlers schicken schon die Jüngsten in die Turnabteilung. Trainieren für die Menschenpyramide. Mein Enkel Lukas macht dieses Jahr die Turmspitze, ist gerade mal 12 Jahre alt. Also, was willst du?« Sein Blick wanderte von Kreuzkamp zu mir. Er musterte mich von oben bis unten, nicht wertend, eher, als wolle er sich einen möglichst umfassenden Eindruck verschaffen. Ich konnte nur hoffen, dass Kreuzkamp sich an unsere Abmachung hielt und über meine Ghostwritertätigkeit für Irma kein Wort verlauten ließ.
»Ich arbeite immer noch an meinem Buch«, begann Kreuzkamp.
Kirchler zog die Augenbrauen zusammen. »Vergiss es. Aus mir kriegst du nichts raus. Ich habe dir nichts zu erzählen.«
»Darum geht’s mir nicht. Ich suche eine andere Landshuterin. In etwa in deinem Alter, Kirchler.«
Der Alte lachte laut: »So?«
»Lisa«, sagte Kreuzkamp. »Sie heißt Lisa.«
»Sagt mir nichts.« Kirchler trat einen Schritt zurück in den dunklen Flur. Ich wäre ihm gerne nachgegangen. Die Sonne versengte mein Gesicht und meine Arme. Wenn sie sich zwischen den Wolken Respekt verschaffte, wurde es unerträglich heiß.
»Aber Irma kennt sie«, mühte sich Kreuzkamp. »Komm schon …«
»Herr Kirchler«, begann ich. Diese Nullnummer konnte ich mir nicht länger anschauen.
»Wer sind denn Sie? Seine neue Flamme? Hat alle naselang eine andere, der saubere Herr von der Zeitung.«
»Nein. Ich bin Erbenermittlerin. Ich kümmere mich darum, dass Erben von Menschen, die scheinbar keine Nachkommen haben, aufgespürt werden und zu ihrem Recht kommen.«
Er sah mich misstrauisch an. Ich hatte keine Ahnung, wie weit diese Geschichte mich tragen würde. Erbenermittlung, du liebe Güte. Lisa war ja tot, wenn es stimmte, was Irma gesagt hatte. Sie konnte also nichts erben, und zu vererben war bestimmt seit Jahrzehnten nichts mehr. Aber ich war mit Kreuzkamp übereingekommen, Kirchler nicht unter die Nase zu reiben, dass wir wussten, dass Lisa tot war. Wenn dieser Bauer mit dem Sonntagshemd unter den Hosenträgern nicht gesprächsbereit war, mussten wir die passende Herausforderung finden, mit der wir ihn zum Reden brachten. Ein paar Köder konnten nicht schaden.
»Da kommen Sie zu mir, ja?« Er lachte. »Erbe ich was?«
»Nein. Sie nicht, aber … nun, diese Informationen unterliegen der Diskretion«, salbaderte ich. »Dennoch würden Sie mir weiterhelfen, wenn Sie mir Auskunft über Lisa und ihre Familie geben würden.«
Eine Frau kam über den Flur geeilt. Eine kleine, zierliche Person, leicht gebeugt von den Jahren. »Gustav? Was ist?«
»Die Herrschaften wollten gerade gehen«, sagte Kirchler, drehte sich um und ließ uns stehen.
»Herr Kirchler?«, rief ich ihm nach.
»Warum lassen Sie ihn nicht einfach in Ruhe?«, beschwerte sich die Alte bei Kreuzkamp. Sie trat zu uns in die Sonne. »Er will nichts erzählen. Wir sind froh, dass wir vergessen haben. Da waren zu viele schreckliche Dinge. Wer will noch darüber sprechen, nach all den Jahren?«
»Aber Sie haben nichts vergessen. Ihre Erinnerungen sind nur verschüttet«, sagte Kreuzkamp.
Du lieber Himmel, plumper ging es nicht mehr.
»Mein Name ist Kea Laverde. Grüß Gott, Frau Kirchler.«
Ich schüttelte ihr die Hand. Sie sah verunsichert zwischen mir und meinem westfälischen Kollegen hin und her. »Ich bin Erbenermittlerin. Ich suche Verwandte von Verstorbenen, die keine Nachkommen hatten … oder sagen wir so, von denen niemand weiß, ob sie nicht doch Erben haben. Irgendwo in der Welt. Und so bin ich nach Landshut gekommen. Ich habe die Information, dass eine gewisse Lisa – Elisabeth, nehme ich an – hier gelebt hat. In Ihrem Alter, wenn Sie erlauben.« Ich schenkte ein Lächeln her, wie ich es von Juliane gelernt hatte. Meiner beherzten Freundin fraßen die Leute aus der Hand, wenn sie strahlte wie der berühmte Honigtopf.
»Lisa?«
»Können Sie mir nicht wenigstens einen Hinweis geben?« Ich spielte ganz die verzweifelte Retterin aller Hilflosen. »Sie erinnern sich sicher an Lisa. Ein hübsches Mädchen, groß, aufgeschossen, mit langem Haar. Ich habe erfahren, dass sie eine gute Freundin von Irma Schwand war.«
»Gerda?«, hörte ich die Stimme ihres Mannes von drinnen. Irgendwo knatterte ein Traktor.
»Aber Lisa ist tot«, murmelte sie.
»Gerda?«
Kreuzkamp öffnete den Mund, aber ich hob die Hand. Halt bloß die Klappe!
»Kennen Sie Lisas Familiennamen?«, fragte ich atemlos. Ich hörte Kirchlers Schritte über den Flur kommen. Dann klingelte im Haus ein Telefon. Die Schritte zogen sich zurück.
»Lisa, die war nicht aus Landshut«, sagte Gerda Kirchler.
Ich sah verstohlen zu Kreuzkamp, der sich ein Handy ans Ohr hielt. Clever war er!
»Sie hieß Halbwachs. Elisabeth Halbwachs. War oft zu Besuch bei der Irma, über Jahre. Die beiden waren die besten Freundinnen, wie Schwestern. Enger noch. Sie waren sich selbst genug. So sagt man, ja?« Gerda Kirchler streckte ihren gebeugten Körper. Nun ging sie mir bis zur Nase. Ihre Augen kamen mir seltsam farblos vor. »Jeden Sommer kam die Lisa hierher. Wir haben sie gehänselt. Sie hatte so eine weiße Haut. Schon damals habe ich den Gustav gemocht«, sie lachte, als sei ihr das peinlich, »aber ich dachte, er interessiert sich nur für die Lisa. Die war die Schönste von allen, ein Wesen aus einer anderen Welt. Sie kam aus München. Gehänselt haben wir sie, weil sie so schnell einen Sonnenbrand bekam. Weil sie Schuhe trug, mitten im Sommer, wo wir alle barfuß über die Felder rannten. Die Lisa, ja. Aber Irma hat sich immer vor sie gestellt, die hat nicht zugelassen, dass irgendjemand der Lisa ein Haar krümmte.«
»Sie kam aus München, sagen Sie?«
»Der Vater ist im Krieg geblieben. Irgendwo in Russland.«
Halbwachs, der Name musste etwas hergeben. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Kreuzkamp sein Handy in die Jeanstasche schob und mir verschwörerisch zugrinste.
»Aber Sie haben dann doch den Gustav bekommen«, sagte ich lächelnd zu Gerda Kirchler.
Nachdenklich sah sie mich an. »Ja. So war das. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Wie ist Lisa gestorben?«
»Das war noch im Krieg. Da sind die Leute gestorben wie die Fliegen. Manche in letzter Minute. Die haben sechs Jahre durchgehalten, und dann bekamen sie Lungenentzündung oder …« Sie brach ab.
»Lungenentzündung?«
»Gerda?«, tönte Kirchlers Stimme aus dem Flur zu uns.
»Danke, Frau Kirchler«, sagte ich und drückte ihre schmale, eiskalte Hand. »Sie haben mir weitergeholfen.«