36

Von jeher hatte ich eine Schwäche für Haidhausen. Dieser Stadtteil kam mir jedes Mal wie eine andere Welt vor, wenn ich durch das Münchner Chaos gekurvt war. Wie ein Dörfchen, dem nur noch der Maibaum fehlte. Umso sympathischer war mir, dass Helga Geraldy, Lisas Cousine, dort lebte. Mit 90 in der eigenen Wohnung. Eine Frau, die ich unbedingt kennenlernen musste, um herauszufinden, wie man es anstellte, im Alter selbstständig zu bleiben.

Kurz nach 17 Uhr klingelte ich im Erdgeschoss eines Hauses in der Metzgerstraße. Ein rollstuhltauglicher Eingang ohne Türschwelle. Helga Geraldy wartete auf mich am Ende eines langen Korridors. Sie stützte sich auf einen Rollator und lächelte mir zu. Ihre braunen Augen verschwammen hinter immensen Brillengläsern. Die Arme, mager und blau geädert, ragten aus einem schwarzen T-Shirt, an dem sie eine Ginkgo-Brosche festgesteckt hatte. Sie trug Jeans. Jeans! Mit 90! Ich fühlte mich ihr sofort nah.

»Grüß Gott, Frau Geraldy. Ich bin Kea Laverde. Wir haben telefoniert.«

»Geraldy.« Der Druck ihrer knotigen Hand war fest. »Kommen Sie herein. Ein kühler Tag heute, das tut mir gut. Ich komme mit der Hitze nicht zurecht.«

Ihr weißes Haar war kurz geschnitten, so wie Julianes, aber lockig. Sie machte eine leichte Kopfbewegung in ihre Wohnung. Ich trat ein. Ein großes Zimmer, spartanisch eingerichtet mit zwei Sesseln, Anrichte, Fernseher. Ein Esstisch mit vier Stühlen. Nicht ein Bild hing an der Wand.

»Ich brauche nicht mehr viel. Kommen Sie, setzen Sie sich.«

Aus den Wohnungen alter Menschen kannte ich ganze Ahnenreihen – Fotos, die Ehepartner, Kinder, Kindeskinder, manchmal Generationen von Katzen und Hunden zeigten. Bei Helga Geraldy dagegen herrschte Minimalismus. Vielleicht war sie nie verheiratet gewesen.

»Ich interessiere mich für Ihre Cousine Lisa Halbwachs«, sagte ich, nachdem wir ein paar Floskeln über das Wetter und den Verkehr ausgetauscht hatten. »Es geht eigentlich darum, dass ich die Biografie von Irma Schwand schreibe. Sie war …«

»Irma! Mein Gott, wie lange habe ich nichts von Irma gehört.« Helga ließ den Rollator los und setzte sich erstaunlich anmutig auf einen Stuhl. »Ich bin ja nun um einige Jährchen älter als meine Cousine. Als Lisa geboren wurde, kam ich gerade in die Schule. Ich war unter meinen Geschwistern die Zweitjüngste. Deswegen war ich selten an der Reihe, auf Lisa aufzupassen. Das mussten meine Schwestern machen. Wir waren vier Schwestern und ein Bruder. Alle kurz hintereinander geboren.«

»Wie war Lisa so?«

»Sie hatte den Kopf in den Wolken. Ein Träumerchen. Möchten Sie etwas trinken?«

»Nein, danke.«

»Gut, dann muss ich nicht aufstehen.« Sie lachte und ihre Züge verzogen sich zu einem frechen Lausbubengesicht. »Die Nazi-Ideologie war genau etwas für Leute wie Lisa. Die Lieder, die Lagerfeuer, die ganze Romantik … darauf ist Lisa hereingefallen. Sie wollte nichts anderes hören. Hat sich in Hitler verliebt. Schauen Sie nicht so! Als Autobiografin möchten Sie die Wahrheit hören, oder? Da gibt es so ein Alter, in dem verlieben sich Mädchen in einen Filmstar oder einen Actionhelden. Heutzutage stehen einige zur Verfügung. Ziemliche Tölpel. Gibt es überhaupt noch gut aussehende Männer mit Umgangsformen? Ich weiß nicht, warum diese Gattung ausgestorben ist.«

»Vielleicht haben die emanzipierten Frauen sie verjagt«, warf ich ein und kam mir schlau und witzig vor.

»Unsinn! Wenn die Männer klug gewesen wären, dann hätten sie uns bei unseren Bemühungen um mehr Rechte unterstützt und es hätte keinen Grund gegeben, sie als Spezies von der Bildfläche zu fegen.« Sie wies auf ihre kahlen Wände. »Ich war nie verheiratet. Keine Kinder. Aber wissen Sie, ich war gern allein. Ich mochte es. Und ich mag es heute noch. Ich kann niemanden für mein Glück oder mein Unglück verantwortlich machen.«

Ich nickte. Mit spontanen Einwürfen sollte man bei Helga Geraldy vorsichtig sein.

»Lisa hat die braunen Ideen in sich aufgesaugt wie ein Schwamm. Als hätte sie nur auf etwas gewartet, woran sie glauben konnte. Wie soll ich Ihnen das erläutern. Sie … war so verträumt. Sie träumte sich eine perfekte Gesellschaft nach Naziwünschen. Hing sehr an ihrem Vater, war aber stolz, als er 1939 an die Front zog. Er wurde sofort eingezogen, mein Onkel Georg. Ich habe geweint, ich mochte ihn. Er war ein lustiger Kauz, der uns Kindern oft etwas vorzauberte. Münzen aus Nase oder Ärmel zog.«

»Lisa hat nicht geweint?«

»Nun, vielleicht hat sie geweint. Seit dem Tag, da ihr Vater ging, hatte sie so einen traurigen Ausdruck in den Augen. Im Lauf des Krieges wurde sie immer ängstlicher. Aber dann lernte sie Irma kennen.«

»Irma aus Landshut?«

»Irma aus Landshut. Lisas Mutter war durch die Kriegsumstände und die beständige Sorge um ihren Mann sehr geschwächt. Sie hatte eine Freundin aus der Schulzeit, Irmas Mutter. So fuhr sie mit Lisa in den Sommerferien nach Landshut und die beiden Mädchen freundeten sich an. Später, als es in München verheerend zuging, schickte sie Lisa ganz nach Landshut.«

»Kannten Sie Irma persönlich?«, fragte ich.

»Aber ja. Sie war einmal bei Lisa in München zu Besuch. Lisa war mächtig stolz. Sie bewunderte Irma. Vergötterte sie geradezu. Wurde eifersüchtig, als Irma mich zum Abschied umarmte. Sie wollte, dass Irma ihr gehörte. Ihr ganz allein.« Helga Geraldy musterte mich kritisch. »Rauchen Sie?«

»Manchmal.«

Sie stand auf, ging ein paar wackelige Schritte auf dünnen Beinen. Nahm eine Schachtel Philip Morris aus der Anrichte, ein Feuerzeug, einen Aschenbecher.

»Ich habe geraucht, bis ich 60 wurde. Dann aufgehört. 1979. Aber nur pro forma. Ich dachte, ich sollte etwas für die Gesundheit tun. Nun gönne ich mir seit einigen Jahren zwei Zigaretten am Tag. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.« Sie gab mir Feuer, mit zitternder Hand, aber in einer ebenso grazilen Geste, mit der sie alle Bewegungen ausführte.

»Irma vermittelte Lisa wahrscheinlich Sicherheit«, nahm ich den Faden wieder auf.

»Natürlich tat sie das. Irma hat sich nie abschütteln lassen. Sie fand immer einen Weg! Sie setzte sich Ziele und kämpfte, bis sie sie erreicht hatte.«

»Aber sie lag politisch ziemlich anders als Lisa. Hat sie mir zumindest erzählt.«

Helga rückte an ihrer Brille. »Irma hielt nichts von den Nazis. Sie machte halt mit. Hielt den Mund, wie wir alle. Zum Schämen ist das! Ein Volk, das mal eben mitmacht. Verstand und Instinkt ausschaltet und …« Sie brach ab.

»Lisa und Irma kamen dann zusammen zum Reichsarbeitsdienst?«

»Ja. 1944 muss das gewesen sein. Es erwischte sie gemeinsam. Lisas Vater galt seit 1943 als vermisst. Sie schwankte zwischen tiefer Trauer, irrationaler Hoffnung, er käme noch zurück, und Stolz, dass ihr Vater auf dem Feld der Ehre … und so weiter. Ich kann diese Formeln nicht einmal wiederholen, ohne dass sich mir alle Haare aufstellen.«

Wir schwiegen und rauchten. Als ich meine Kippe ausdrückte, fragte ich: »Wie ist Lisa gestorben?«

»Das war mysteriös. Aus Irma habe ich nie etwas herausgekriegt. Wenn Sie mich fragen: Irma fühlte sich schuldig an Lisas Tod. Nicht, dass sie … eine wirkliche Schuld auf sich geladen hätte. Aber irgendetwas beschäftigte sie. Als Lisa tot war, holten wir ihre Mutter zu uns. Sie blieb bei uns in München wohnen. Bis zu ihrem Tod lebten meine Mutter und Tante Franzi zusammen. Die beiden Schwestern hingen sehr aneinander. Im Alter wurden sie sich immer ähnlicher, wie Zwillinge. Sie kleideten sich gleich und gingen oft Hand in Hand spazieren. Ihre starke Nähe, ich möchte sagen, ihre Seelenverwandtschaft, hat sie aufrechterhalten. Tante Franzi war für meine Geschwister und mich wie eine zweite Mutter. In Zeiten wie diesen kann man ja gar nicht genug Mütter haben. Keine Liebe mehr, nur noch Leistung, Konkurrenz, Materialismus.« Helgas Hände spielten mit der Zigarettenschachtel. »Tante Franzi starb 1987. Meine Mutter ein halbes Jahr später.«

»Lagen sie auch im selben Grab?«

»Aber ja. Niemand hätte sie trennen können.«

»Haben Sie Kontakt zu Irma gepflegt?«

»Nein. Dazu waren wir auch … wie soll ich sagen … nun, wir hatten nicht viel gemeinsam.«

Ich betrachtete Helga. Eine Frau, die etwas Vornehmes, Anmutiges ausstrahlte. Dagegen Irma: ein Erdmännchen, ein Haudegen, ein Wirbelwind.

»Sie war ein Lausbub. Als Kind wollte sie immer ein Junge sein.« Helga lachte.

»Aber wie kam es, dass niemand etwas über die Umstände von Lisas Tod in Erfahrung brachte?«

»Wir bekamen nur bruchstückhafte Informationen. Meine Mutter kümmerte sich um alles, Papiere, Bestattung. Tante Franzi war gar nicht in der Lage dazu.«

»Lisa soll ertrunken sein«, sagte ich vorsichtig.

»Ja. In einer Pfütze.«

»In einer – Pfütze?«

»Ich sage ja, mysteriös. Meinen Sie, wir hätten damals Detektiv gespielt? Jeder war damit beschäftigt, zu überleben. Nicht krank zu werden, nicht zu verhungern, keine Bombe auf den Kopf zu kriegen. Nicht aufgeknüpft zu werden von den Schergen, die überall unterwegs waren! Wir zählten die Tage, bis endlich die Amerikaner kamen. Und fürchteten sie gleichzeitig. Ich habe damals mehr Angst um Lisas Mutter gehabt, als ich Trauer um Lisa empfunden habe. Ich wollte einfach nicht, dass Tante Franzi auch noch zugrunde geht. Lisa war tot, aber ich empfand kaum etwas. Dazu hatte ich zu viele Tote gesehen. Ich musste eine Weile in einem Lazarett arbeiten. Was ich dort mitbekam, hat an Entsetzlichem für mein Leben gereicht.«

»Hat irgendjemand sich näher dafür interessiert, wie Lisa in einer Pfütze ertrinken konnte?«, fragte ich. Ich dachte an den Mord in Landshut. Julika Cohen, die man tot in einer Pfütze liegend gefunden hatte. Nicht ertrunken, das hatte Kreuzkamp in der Zeitung geschrieben. Ihr war das Genick gebrochen worden. Ein Mädchen, etwa so alt wie Lisa damals, ein Mädchen, das dieser Lisa auch noch ähnlich sah.

»Nicht, dass ich wüsste. Wie geht es Irma?«

»Nicht gut. Sie hat eine schlechte Diagnose bekommen. Alzheimer.«

Helga sah mich durch ihre immensen Brillengläser hindurch an und sagte: »Das ist jetzt nicht wahr?«

»Doch. Leider.«

»Scheibenhonig. Hat sie schon vergessen, wer sie ist?«

»Das Problem besteht darin, dass ihre Enkelin umgebracht wurde. Julika, gerade 20 Jahre alt.« Ich räusperte mich. Todesnachrichten zu überbringen war ich nicht gewöhnt. »Seit Irma das weiß, hat sie rapide abgebaut.«

»Da werden die Ärzte sagen, das sei eine Stressdemenz. Extrem schneller mentaler Abbau aufgrund eines Schockerlebnisses. Ein schönes Etikett.« Helga Geraldy lachte laut auf. Dann blickte sie aus dem Fenster. Ich sah die Tränen auf ihren Wangen. »Aber so ist es. Wir bauen alle ab. Wir werden weniger und weniger. Der Körper, der Geist … bis das bisschen, was noch geblieben ist, von einem einzigen Windhauch davongetrieben wird.«

»Kannten Sie Julika?«

»Ich? Nein. Ich hatte, wie gesagt, keinen Kontakt zu Irma.« Sie zog, wiederum voller Anmut, ein Papiertaschentuch aus ihrem Ausschnitt und tupfte sich die Tränen ab. »Aber Irma war eine Grenzgängerin. Wissen Sie, was ich oft dachte? Dass Menschen wie Irma in winzigen, kurzen Augenblicken etwas von der anderen Welt offenbart wird. Wenn wir uns den Irmas dieser Welt anschließen, dann erfahren wir etwas. Dann ist Licht in unserer Finsternis.«

 

Bisduvergisst
titlepage.xhtml
Bisduvergisst_split_0.html
Bisduvergisst_split_1.html
Bisduvergisst_split_2.html
Bisduvergisst_split_3.html
Bisduvergisst_split_4.html
Bisduvergisst_split_5.html
Bisduvergisst_split_6.html
Bisduvergisst_split_7.html
Bisduvergisst_split_8.html
Bisduvergisst_split_9.html
Bisduvergisst_split_10.html
Bisduvergisst_split_11.html
Bisduvergisst_split_12.html
Bisduvergisst_split_13.html
Bisduvergisst_split_14.html
Bisduvergisst_split_15.html
Bisduvergisst_split_16.html
Bisduvergisst_split_17.html
Bisduvergisst_split_18.html
Bisduvergisst_split_19.html
Bisduvergisst_split_20.html
Bisduvergisst_split_21.html
Bisduvergisst_split_22.html
Bisduvergisst_split_23.html
Bisduvergisst_split_24.html
Bisduvergisst_split_25.html
Bisduvergisst_split_26.html
Bisduvergisst_split_27.html
Bisduvergisst_split_28.html
Bisduvergisst_split_29.html
Bisduvergisst_split_30.html
Bisduvergisst_split_31.html
Bisduvergisst_split_32.html
Bisduvergisst_split_33.html
Bisduvergisst_split_34.html
Bisduvergisst_split_35.html
Bisduvergisst_split_36.html
Bisduvergisst_split_37.html
Bisduvergisst_split_38.html
Bisduvergisst_split_39.html
Bisduvergisst_split_40.html
Bisduvergisst_split_41.html
Bisduvergisst_split_42.html
Bisduvergisst_split_43.html
Bisduvergisst_split_44.html
Bisduvergisst_split_45.html
Bisduvergisst_split_46.html
Bisduvergisst_split_47.html
Bisduvergisst_split_48.html
Bisduvergisst_split_49.html
Bisduvergisst_split_50.html
Bisduvergisst_split_51.html
Bisduvergisst_split_52.html
Bisduvergisst_split_53.html
Bisduvergisst_split_54.html
Bisduvergisst_split_55.html
Bisduvergisst_split_56.html
Bisduvergisst_split_57.html
Bisduvergisst_split_58.html
Bisduvergisst_split_59.html
Bisduvergisst_split_60.html
Bisduvergisst_split_61.html
Bisduvergisst_split_62.html
Bisduvergisst_split_63.html
Bisduvergisst_split_64.html
Bisduvergisst_split_65.html
Bisduvergisst_split_66.html
Bisduvergisst_split_67.html
Bisduvergisst_split_68.html
Bisduvergisst_split_69.html
Bisduvergisst_split_70.html
Bisduvergisst_split_71.html
Bisduvergisst_split_72.html
Bisduvergisst_split_73.html
Bisduvergisst_split_74.html
Bisduvergisst_split_75.html
Bisduvergisst_split_76.html
Bisduvergisst_split_77.html
Bisduvergisst_split_78.html
Bisduvergisst_split_79.html
Bisduvergisst_split_80.html
Bisduvergisst_split_81.html
Bisduvergisst_split_82.html
Bisduvergisst_split_83.html
Bisduvergisst_split_84.html
Bisduvergisst_split_85.html
Bisduvergisst_split_86.html
Bisduvergisst_split_87.html
Bisduvergisst_split_88.html