47

Nero kam eine Stunde zu spät zur Besprechung in Landshut. Er parkte, stellte den Motor ab. Auf der Autobahn hätte ihn beinahe ein Bus gerammt. So fühlte sich sein Inneres an: Als wäre er mit einem Bullen zusammengestoßen. Der innere Absturz rief altbekanntes Entsetzen hervor. Wie damals, als Leonor tot in seinen Armen gelegen hatte.

Kea, die zweite Liebe seines Lebens …

Ich verstehe sie nicht, dachte Nero. Sie ist mir fremd. Er musste dringend mit jemandem reden. Nero presste für Sekunden die Stirn an das Lenkrad seines Volvos. Ein Wagen, über den Kea sich so gern lustig machte. ›Sicherheit aus Schwedenstahl‹, neckte sie ihn. Nero, der Sicherheitsapostel. Der Schattenparker. Der Hasenfuß.

Er musste Peter Jassmund anrufen. Seinen ehemaligen Kollegen aus Fürstenfeldbruck, den Freund, der ihn aufgefangen hatte, als Leonor umgebracht worden war.

Nero fühlte sein Herz schlagen, schnell, zu schnell, als habe dieses Herz es eilig, ihn von seinem Erinnerungstrip herunterzuholen. Er stieg aus und klopfte zwei Minuten später an Leitners Bürotür.

»Schmeißen wir zusammen«, sagte Leitner anstelle einer Begrüßung. »Kommen Sie rein. Wir haben was.«

»So?«, fragte Nero. Er wollte von Kea sprechen. Aber Leitner, dieser massige Typ mit dem Dauerhusten und dem Tick, wo er ging und stand Zigaretten auf Vorrat zu drehen, kam ihm zuvor.

»Wir haben den Hallhuber Siegmar. Der ist nach dem Mord an Julika aus Landshut abgehauen. In Deggendorf haben sie ihn geschnappt. Stockbesoffen. Mittlerweile hat er ausgeschlafen. Kommen Sie mit?«

Ein kompakter, dunkelblonder Mann mit einem Dreitagebart saß im Vernehmungszimmer am Tisch und litt erkennbar an einem Kater. Seine Züge waren verknittert, Angst und Unsicherheit drangen aus jeder Körperzelle. Er stank unerträglich nach Schweiß. Nero schüttelte sich vor Ekel.

»Siegmar Hallhuber? Geboren am 23. April 1987?«, fragte Leitner. »Landshuter?«

»Ja.« Hallhuber nickte und kniff dabei die Augen zusammen. »Mein Hirn platzt.«

Leitner rief nach draußen, die Kollegen sollten sich um ein paar Aspirintabletten kümmern.

»Du bist aus Landshut abgehauen. Nach dem Mord an Julika Cohen.«

»Kenne ich nicht.«

»Kennst du. Du hast mit dem Berger Alfi gewettet, dass du sie eher flachlegst als er. Und du hast es geschafft.«

»Ich?«

Die Verwirrung in Hallhubers Gesicht brachte Nero beinahe zum Lachen.

»Also?«

»War ein Spaß, o. k.?«

Ein Beamter klopfte und brachte Mineralwasser und ein Päckchen Aspirin. Leitner legte seine Pranke auf die Tablettenschachtel.

»Hast du sie flachgelegt?«

»Gib mir das Aspirin, Leitner.«

»Dir zerreißt es die Birne. Ist gleich vorbei. Die Tabletten wirken schnell. Aber erst reden wir noch ein bisschen.«

Nero sah seinen Kollegen von der Seite an. Er musste ihn bewundern. Nerven wie Drahtseile, trotz der vielen Zigaretten. Leitner hatte sicherlich mehr Verdächtige weichgekocht als die meisten seiner Kollegen.

»In der Nacht, als Julika starb, wann bis du da heimgekommen?«

»Heim?«, stammelte Hallhuber.

»Zum Berger Alfi. Bei dem hast du dich breitgemacht.«

»Ungefähr um 11 Uhr nachts.«

»Und dann?«

»Dann haben wir ein paar Bier getrunken. Der Alfi, der macht seit Wochen einen auf abstinent. Pisst sich ins Knie wegen seiner Pferdeführergeschichte.«

»Neidisch?«

»Pfff … ist Provinzkram. Die Landshuter Hochzeit, das alles.«

»Für diesen Provinzkram bist du extra aus München gekommen und hast dich beim Alfi eingenistet«, bohrte Leitner.

»Naja, da hängen ein paar Erinnerungen dran.« Hallhubers Augen fixierten Leitners Hand über dem Aspirin. »Kann ich wenigstens einen Schluck Wasser haben?«

Leitner goss ihm ein Glas ein. »Für dich wäre das nichts, Hochzeiter zu sein? Mitmachen zu dürfen ist eine Ehre. Du wohnst nicht mehr hier, aber du bist ein Landshuter.«

»Ich scheiße auf Ehre. Dafür kannst du dir nichts kaufen.«

»Und du bist notorisch knapp bei Kasse.« Leitner warf Nero einen Blick zu und schob das Glas über den Tisch. »Na, trink mal!«

Siegmar Hallhuber betrachtete das sprudelnde Wasser und hob zweifelnd das Glas. Seine Hand zitterte so, dass er ein gutes Drittel verschüttete. Gut, dachte Nero. Gut. Mach ihn fertig, Leitner. Schließen wir den Fall ab und ich kläre das mit Kea.

Leitner stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Du hast Ärger mit dem Arbeitsamt. Bewirbst dich nicht, lässt dir nicht mal gut zureden. Also kürzen sie dir die Bezüge. Und du brauchst dringend Schotter.«

Siegmar Hallhuber sah Leitner aus blutunterlaufenen Augen an. »Ich bin nicht mit einem goldenen Mantel geboren. Arme Mutter, kein Vater.«

»Ach! Du Unglücksrabe!«, sagte Leitner und hob die Faust, ließ sie auf den Tisch krachen. »Du bist über 18! Da musst du für dich selbst sorgen! Also. Du brauchst Geld. Hast dich benommen, als hättest du im Lotto gewonnen. Woher hast du es?«

»Hä?«

»Julika Cohen«, sagte Nero ins Blaue hinein, ehe Leitner ihn hindern konnte, »ist zu Geld gekommen. Da konnten Sie nicht nachstehen!« Es könnte so sein, dachte er. Es könnte wirklich so sein. Ich fische im Trüben, aber wer sagt mir, dass sie nicht doch in der Phishing-Szene die Pfründe angräbt?

»Leitner, gib mir das Aspirin«, bettelte Hallhuber.

Leitner drückte eine Tablette aus dem Blister, behielt sie jedoch in der Faust.

»Aber sie wollte nicht zahlen. Da haben Sie sie ermordet«, setzte Nero nach.

»Wie blöd bin ich, hä?«, fragte Siegmar Hallhuber. Er rieb sich die Stirn. »Leitner, gib mir die Tablette.«

Leitner goss Wasser nach und warf das Aspirin in das Glas.

»Sie haben Julikas Geheimnis erkundet«, sagte Nero. »War es nicht so? Ein hübsches Geheimnis, das für Sie viel Geld wert war. Aber nun ist sie tot, und nun kann sie Sie nicht mehr beteiligen.« Nero spürte Leitners verständnislosen Blick auf sich gerichtet. Es konnte nicht stimmen. Wieso sollte Hallhuber Julika umbringen, wenn er sich einen hübschen Geldsegen von ihr erhoffte? Umgekehrt würde ein Schuh draus.

Gierig trank Hallhuber das Glas leer. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Aber ja«, sagte Nero kühl. »Sie wissen, was ich meine. Sie haben Kontakte. Sie lassen Ihre Lebenszeit ja nicht ungenutzt verstreichen. Während andere ihrer Arbeit nachgehen, um Geld zu verdienen, durchstreifen Sie die Welt auf der Suche nach dem schnellen Reibach.«

Der Hallhuber stellte das leere Glas ab und rülpste.

»Benimm dich!«, raunzte Leitner ihn an.

»Julika Cohen ist zu Geld gekommen. Sie hat bezahlt. Und bekam die CD von Ihnen«, legte Nero los.

Hallhuber wurde blass. »Was? Was ist das für eine Scheiße, Mann?«

»Selbst angerührte Scheiße«, fuhr Leitner dazwischen. »Ein bisschen Erpressung macht sich gut. Damit hast du ja Erfahrung, oder? Du bist schon wegen anderer Sachen aufgefallen. Erpressung war eine von den größeren. Das ist kein Spaß mehr, Hallhuber, und dafür handelst du dir richtig Ärger ein.«

Siegmar Hallhuber lehnte sich zurück. Die fahle Blässe verschwand. Sein Gesicht wurde rosig. Er hustete.

»Brauchst du noch ein Aspirin?«, fragte Leitner, und seine Stimme klang plötzlich mitleidig.

»Mir ist schlecht«, sagte Siegmar Hallhuber und ruckte auf seinem Stuhl hin und her.

»Wie viel hat dir die Julika gegeben?« Leitner beugte sich vor, warf eine zweite Tablette ins Glas und schenkte den Rest aus der Mineralwasserflasche drauf. »Trink. Und rede!«

»Warum haben Sie sie umgebracht?«, hakte Nero nach.

»Ich habe sie nicht umgebracht.« Hallhuber trank ein paar Schlucke, ließ das Glas sinken und griff sich an den Hals. »Ich habe überhaupt nichts mit ihr zu tun gehabt. Mir ist schlecht.«

»Mach hier keinen Markus!«, sagte Leitner. »Also?«

Hallhubers Gesicht war nun puterrot. Er keuchte, beide Hände an der Kehle, und schnappte nach Luft. Seine Wangen schwollen an. Die geröteten Augen schienen in ihren Höhlen zu versinken.

»Krieg keine Luft!« Er ruderte mit den Armen.

»Scheiße!«, schrie Leitner und stürmte auf den Gang hinaus. »Ruft einen Notarzt! Los, ruft einen Notarzt!«

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