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Die Schnürstiefel fest an den Füßen treten wir zum Morgenappell an. Appell an der Fahne und Einteilung zur Arbeit. Du leidest, Lisa, deine feinsinnige Seele erträgt den tristen Anblick der grauen Baracken nicht. Dieses Geviert aus Mannschafts- und Führerbaracken. Ich schaue gar nicht mehr hin. Das ist mein Trick. Ich blende dieses kalte Quadrat einfach aus.

Ich hasse den Frühdienst bei den Führerinnen. Einheizen, abstauben. Dabei ist das mit dem Einheizen so gut wie unmöglich, wir haben einfach kein vernünftiges Brennmaterial. Neulich habe ich keine Zeit mehr gehabt, die Schreibtische sauber zu machen. Da hat jemand am nächsten Tag mit dem Finger ›Schwein‹ in den Staub geschrieben. Bei den Führerinnen herrscht meistens ein ziemliches Chaos. In unserer Waschbaracke dagegen müssen die Zahnbürsten in eine Richtung schauen.

Einmal war ich dazu abkommandiert, das Kleinkind einer Führerin zu betreuen. Die Kleine mochte mich, aber ehrlich gesagt, ich hoffe immer auf eine Arbeit, die mich für eine Weile aus dem Lager rausholt. Küchendienst in der Gastwirtschaft ›Knödel‹ zum Beispiel, das war ganz nett, auch wenn ich mir vorgenommen habe, mir eine Köchin anzustellen, später in Amerika. Aber noch ist es nicht so weit.

Heute haben wir Glück, Lisa. Die Maidenoberführerin wählt uns aus. Wir dürfen die Dienstpost von Aidenbach nach München bringen. Du und ich, Lisa. Das nenne ich Glück. Denn die Mädchen, die auf dem Gymnasium waren, so wie wir, die kriegen oft die miesesten Arbeiten ab.

Wir bekommen unseren Koffer mit den Briefen und ziehen los. Wir sind verlässlicher als die Post. Die ist tot, zerbombt, zerrüttet, die Wege sind unterbrochen, und der Himmel weiß, ob wir überhaupt bis München kommen. Aber fürs Vaterland müssen wir es versuchen. Fürs Vaterland tun wir doch alles, Lisa, stimmt’s?

Draußen geht Wind, noch frisch, böig. Wir frösteln.

Ach Lisa, Lisachen, wenn ich gewusst hätte … du bist die Ältere und Größere von uns beiden, 19 bist du, aber du verlässt dich nur auf mich.

Wir müssen zu Fuß zum Bahnhof gehen, durch den Wald, es ist kalt, der Wind rüttelt an den Baumwipfeln, der Frühling sagt unterkühlt guten Tag, und seltsamerweise empfinde ich Seligkeit und Freude. Bald wird es richtig Frühling, und bald kommt das Ende und dann der Friede, und auch wenn wir nicht wissen, was die Sieger mit uns machen – irgendwie werden wir uns auf die neue Situation einstellen. Wir halten zusammen, dann kann nichts schiefgehen.

Wenn ich gewusst hätte, was geschehen wird, Lisa, dann hätte ich Fieber vorgeschützt oder Zahnweh oder einen verknacksten Knöchel.

Aber so traben wir durch den Wald, als wäre es ein normaler April. Ein kühler Frühling zum Verlieben. Nur, dass keine Männer da sind. Das stört. Ja, ja, Lisa, schon gut, du willst nicht, dass meine Geschichte so rüberkommt, als wären wir ständig auf Männerfang gewesen. Aber mit 18 und 19, da träumt man von der großen Liebe. Möchte geküsst und hofiert werden. Vor allem, wenn weit und breit kein ansehnliches Exemplar zu sehen ist. Nur der Franzose auf dem Michelbacher Hof, den mögen wir beide. Der ist fesch, so ein dunkler Typ, mit kräftigen Schultern und ganz schmalen Hüften. Als ich beim Michelbacher Bauern Dienst hatte, da habe ich mir den Franzosen genau angesehen, das kannst du glauben.

Wir haben Glück und kriegen einen Zug. Zuerst den Bummelzug nach Vilshofen. Von dort fährt eine Bahn nach Plattling, allerdings mit Verspätung. Aber was heißt ›Verspätung‹ – es gibt ohnehin keine Fahrpläne mehr. Ein paar Leute müssen erst eine Leiche aus dem Zug raustragen, bevor wir abfahren können. Der Tod hat zurzeit wirklich eine Menge Arbeit. Die Frau ist einfach umgekippt, Herzschlag, sagt jemand, während die Bahre weggetragen wird, und eine andere Frau sagt mit kaltem Blick: »Die hatte Glück.« Dabei spritzt die Spucke aus ihrem Mund und ich wende mich ab.

In Plattling ist erst mal Schluss. Kein Zug fährt. Wir sitzen im Wartesaal.

Wo kommen nur die vielen Menschen her! Frauen allen Alters, Kinder, Greise. Zurückflutende Soldaten. Man möchte glauben, die Menschen hauen ab, graben sich in die Erde ein, wie jedes Tier es tun würde, aber nein, die laufen raus, mitten hinein in die Gefahr, so wie wir, Lisa. Wir sind dumme Tiere. Für die Dienstpost tun wir alles. Du willst dem Führer die Haut retten und ich tue so, als wollte ich dem Führer die Haut retten.

Auf dem Bahnhof herrscht ein wahnsinniges Chaos, alle sind in Eile, drängeln, haben Angst, sind ausgelaugt, unterernährt, schwach. Sie alle haben es satt, so satt. Ihre Körper dünsten den Überdruss aus, den ständigen Hunger. Sie wollen nur essen und schlafen und in Sicherheit sein. Mehr wollen sie nicht.

Dann musst du aufs Klo.

Die Bahnhofstoiletten sind unbenutzbar. Wir suchen uns irgendeine Nische, ich stelle mich vor dir auf, knöpfe den Mantel auf, schirme dich ab, und du pinkelst, brauchst ewig, das ist andauernd so, wenn du Angst hast. Lisa, mein kleiner Hase. Mein Angsthase!

Gegen Morgen heißt es, es käme ein Zug, der nach Landshut fährt.

Wir rennen über den Bahnsteig mit unserem Postkoffer, und ich schaue dich an und frage dich lautlos, nur mit den Augen, wie es wäre, wenn wir abhauen würden. Dienstpost wegschmeißen und ab. Meine Mutter wohnt in Landshut, und deine ist bei ihr. Jedenfalls war sie das, als wir das letzte Mal von ihr gehört haben. Dort könnten wir uns verstecken. Ein oder zwei Wochen noch, länger dauert das nicht mehr. Das flüstern sich des Nachts die Katzen zu, Lisa. Die du nicht hörst, weil du nicht glaubst, dass die Katzen sich Geschichten erzählen. Aber du schüttelst nur stumm den Kopf, während wir uns in die Augen schauen. Zuviel Angst. Die hängen alle Deserteure auf. Wir in unseren albernen Uniformen, Lisa! Kann sein, dass sie auch uns aufhängen. Wer kann das wissen.

Die Menschen drängen in den Zug. Frauen, unendlich viele Frauen, junge, alte, ganz alte, solche mit Kindern, solche, die Alte stützen. Ein paar Jungen, die sie bald noch holen werden zum letzten Kampf, und alte Männer, gebeugt, mit Bartstoppeln im grauen Gesicht. Abgewrackte Soldaten. Gepäck, überall Gepäck. Rucksäcke, Kinderwagen, Koffer, Taschen. Wir stecken mittendrin.

Keine Panik, Lisa. Ich bin ja bei dir. Irgendwann ergattern wir ein Plätzchen, du setzt dich, ich sitze auf deinen Knien, und ab und zu wechseln wir.

Der Zug schleicht dahin, Vorsicht ist geboten, die Schienen sind keine Schienen mehr, sie sind Zufälle, Glücksfälle. Alle haben Angst. Bloß kein Alarm, bloß nicht rausmüssen aus dem überfüllten Zug.

Ich schlafe ein bisschen, und als ich aufwache, fahren wir in Landshut ein.

Weißt du, Lisa, es geschieht mitunter, dass die Dinge, die wir fürchten, und die wir uns in allen grauenhaften Farben ausmalen, genau so eintreten, als hätten wir sie heraufbeschworen. Und deswegen haben wir hübsch stillgehalten in der Enge des Zuges, unter den nach Schweiß und widerlichem Essen riechenden Menschen. Wir sprechen nie über unsere Ängste. Nicht darüber, wie es sein wird, wenn die Amerikaner kommen und wir dastehen in unserer RAD-Uniform. Nicht darüber, wie es sein wird, wenn Tiefflieger den Zug angreifen. Nicht darüber, was auf dieser Fahrt nach München geschehen wird. Nicht darüber, dass eine von uns nicht zurückkehren könnte ins Lager. Vielleicht nicht einmal bis zur Dienststelle in Schwabing kommt.

Wir schweigen, atmen flach, weil der Gestank im Zug unerträglich ist. Vor allem hätte ich mich gefürchtet, vor allem, Lisa, aber nicht davor, dass wir eines Tages getrennt sein könnten.

Alles hat einen wenn auch verborgenen Sinn. Das denke ich, als der Zug quietschend hält und die Menschen um uns aus ihrem Schweigen erwachen.

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