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Nero betrat den Raum, in dem die Pressekonferenz stattfinden sollte, mit gemischten Gefühlen. Hoffentlich dachte Leitner daran, dass er nur über die Daten-CD sprechen wollte. Die Landshuter Kripo hatte Herbert Neugruber vernommen. Die beiden Rechner in seiner Wohnung waren blank und rein wie Selbstgebrannter. Was noch nichts hieß. Polizeioberrat Woncka, Neros Vorgesetzter, hatte Nero nach Landshut abgestellt, um für alle Eventualitäten bereitzustehen. Typischer Woncka-Ausdruck: ›Schauen Sie sich um. Sie sind der Spezialist! Dafür sind Sie da!‹
Nero setzte sich auf den Platz an der Stirnseite des Konferenzraumes, den Leitner ihm zuwies. Er hatte vor einem halben Jahr an den Ermittlungen zu einem ähnlich bizarren Fall mitgewirkt. Die Nutzer pornografischer Plattformen horteten bei ihren Frauen und Freundinnen stapelweise DVDs, ohne dass die Damen eine Ahnung von der Brisanz der Daten hatten.
Die Journalisten füllten den Raum bis zum letzten Stehplatz. Nero spürte, wie der Schweiß sein frisch gebügeltes Hemd durchnässte. Während der Landshuter Hochzeit stand die kleine Stadt ohnehin im Zentrum des Medieninteresses, am ersten Tag der dreiwöchigen Sause zumal. Um 11 Uhr sollte das Festspiel im Rathaus stattfinden, sie mussten mit der Pressekonferenz also bis spätestens 10.30 Uhr fertig sein. Ein Mord zur Landshuter Hochzeit – das versprach Quoten. Nero blickte in die Runde, überlegte kurz, welchen Journalisten Kea durch Zufall getroffen haben mochte. Zum Teufel mit dem Argwohn. Er hatte sich auf Kea eingelassen, und er wusste, dass sie einmaligen amourösen Vergnügungen nicht abgeneigt war. Bevor er und Kea zusammenkamen, hatte sie in gewissen Abständen mit anderen Männern geschlafen; gerade mit solchen, die sie kaum kannte. Nero schob den Gedanken, dass sie dies vielleicht noch tat, weit von sich. Sie hatten einander kein Versprechen gegeben. Nichts von ewiger Treue. Sie vertraute ihm, er vertraute ihr. Das sollte genügen, dachte Nero. Aber für Kea war es auch einfach, ihm zu vertrauen: Er machte keinen Hehl aus der Tatsache, dass Affären für ihn nicht infrage kamen, wenn er in einer Beziehung lebte.
Leitner ließ sich keuchend auf den Stuhl rechts neben Nero fallen. Die asiatische Kollegin nahm links Platz. Ganz am Rand saß eine Ermittlerin aus Leitners Team, die Nero an eine sowjetische Grenzerin zu Zeiten des Kalten Krieges erinnerte. Gisel Katzenbacher hatte ihre fülligen Formen in ein viel zu warmes grünes Kostüm gepresst, tupfte sich das Gesicht mit einem Stofftaschentuch ab und blickte über den Rand ihrer Lesebrille streng in die Runde.
»Herrschaften!«, donnerte Leitner los. Sofort kehrte Stille ein. »Erste Erkenntnisse: Julika Cohen wurde am 25.6. zwischen 1.30 und 3 Uhr umgebracht. Sie lag mit dem Gesicht in einer Pfütze, ist allerdings nicht ertrunken, wie wir zuerst annahmen, sondern«, Leitner durchpflügte seine Papiere mit seinen Wurstfingern, »laut Gerichtsmedizin wurde ihr das Genick gebrochen. Die Haut in ihrem Nacken weist Abschürfungen und Spuren von Erde auf. Sie könnten von einem Tritt herrühren.«
Nero blickte nervös auf die Mikrophone und Aufnahmegeräte. Gleich war die Reihe an ihm. Er wollte so knapp und gezielt wie möglich vortragen. Nachfragen brachten ihn durcheinander, er mochte keine Situationen, in denen die Kontrolle nicht bei ihm lag. Dem Pulk aus Leichenfledderern vor ihm fühlte er sich nicht gewachsen. In seiner langen Polizeikarriere war ihm die Abneigung gegen die schreibende Zunft in Fleisch und Blut übergegangen. Kaum vorstellbar, dass Kea einmal so einen Job gemacht hatte.
»Zweitens«, hörte er Leitner neben sich herunterleiern, »gibt es eine Spur, weist womöglich auf Internetkriminelle. Kollege Keller vom LKA wird das erläutern.«
Nero räusperte sich. »Nero Keller, Landeskriminalamt München«, hörte er sich sagen. »Es besteht Anlass zu der Vermutung, dass der Mord an Julika Cohen in die Hackerszene führt. Sie hatte eine CD bei sich mit einem bislang unbekannten Computerprogramm …«
»Verbindungen zu Pornografie?«, rief eine Frau aus dem Publikum.
»Kaum anzunehmen«, erwiderte Nero. Der Schweiß rann ihm über die Schläfen in den Drei-Millimeter-Bart. Sei professionell, mahnte er sich. Sie macht ihren Job, du machst deinen. Sie tut dir nichts. »Die Software ist, soweit wir bisher herausgefunden haben, zum Infiltrieren fremder Rechner gedacht. Was genau das Programm tut, wissen wir noch nicht.«
»Wirtschaftsspionage?«, fragte jemand vorwitzig.
»Ein neuer Virus?«, tönte ein anderer.
»Derzeit lässt unsere Abteilung das Programm auf alle möglichen Systeme los. Früher oder später wissen wir, was es damit macht.«
»War Julika Cohen eine Hackerin?«, erkundigte sich ein älterer Mann, der mit einem gigantischen Objektiv vor dem Bauch neben der Tür lehnte.
»Wir nehmen nicht an, dass sie selbst dieses Programm geschrieben hat«, sagte Leitner. »Wir ermitteln in ihrem Umfeld. Noch Fragen?«
Er macht das cool, dachte Nero bewundernd. Obwohl der Ausdruck zu ihm nicht passt.
»Verfolgen Sie noch andere Spuren?«, fragte ein Mann mit glattem, schwarzem Haar, der Nero entfernt an einen Filmschauspieler erinnerte.
»Wir ermitteln in alle Richtungen, aber die Computersache ist unsere wichtigste Spur.« Leitner ließ seine Faust auf den Tisch donnern. »Herrschaften, wir brauchen eure Hilfe bei der Suche nach Zeugen …«
Zehn Minuten später hatte sich der Raum geleert, bis auf den Reporter mit dem amerikanischen Filmstargesicht, der jetzt leise auf Leitner einredete. Nero stand mit Yoo Lim am offenen Fenster und blickte auf das gelbe Gebäude gegenüber. Aus Anlass der Landshuter Hochzeit war es mit Birkenbäumchen und grünen Kränzen geschmückt. Die über der Straße flatternden blauen, roten und weißen Wimpel weckten in ihm die Vorstellung, dass hier eine wirkliche Hochzeit stattfand. Nichts Konstruiertes. Er hörte, wie Leitner mehrmals »nein, kommt nicht infrage« brummte.
Was für ein herrlicher Sommertag. Keiner von denen, die man gerne vor einem Bildschirm verbrachte, um sich durch Zahlenkolonnen zu klicken. Die junge Kollegin bombardierte Nero mit Fragen zur Karriere am LKA. Sie war ehrgeizig und hatte was auf dem Kasten, keine Frage. Bei Bedarf würde er Woncka einen Tipp zu ihren Gunsten geben. Aus den Augenwinkeln sah Nero, wie Leitner sich eine Zigarette nach der anderen drehte und die fertigen Tschicks sorgsam vor sich auf dem Tisch aufreihte.
»Lust auf eine Mittagspause?«, fragte Yoo Lim freundlich. »An der Isar? Mögen Sie Fisch vom Grill?«
»Ich glaube, Ihr Chef wollte noch etwas besprechen. Danach gern.«
»Gehen wir ins Büro. Der Leitner saugt sich sowieso erst mal ein, zwei Joints in die Birne.«
Leitner sah zu ihnen herüber, als er seinen Namen hörte. Yoo Lim winkte ihm zu. Nero folgte ihr auf den Gang.