52

Wir fuhren in meinem Wagen. Ich war gern unabhängig. Außerdem traute ich keinem mehr. Außer Juliane. Ich versuchte, sie zu erreichen, während ich den Wagen durch das prächtige Grün nach Niederaichbach steuerte. Keine Chance. Bei Dolly zu Hause meldete sich niemand.

»Verdammt«, murmelte ich und warf mein Handy aus alter Gewohnheit auf den Beifahrersitz. Direkt in Kreuzkamps Schoß.

»Na, na«, grinste er.

Ich lachte. Er war nett. Er war o. k. Er konnte ja nichts dafür, dass er aussah wie Cary Grant, der Schwarm aller Frauen.

»Sorry, ist ein Reflex.« Ich bog von der Autobahn ab.

»Ja, so was kommt vor.«

Natürlich konnte er nicht einfach die Klappe halten. Manche Menschen sonderten in einem fort Kommentare ab. Hielten sich für geistreich. Kreuzkamp ließ lässig sein Fenster herunter. »Wissen Sie, was mich erstaunt?«, sagte er in den Fahrtwind hinein.

»Sagen Sie es mir.«

»Dass Sie mich noch nicht auf ihn angesprochen haben.«

»Auf wen?«

»Auf den großen Cary.«

»Kenne ich nicht.«

Er lachte. »Au Backe, da habe ich aber eine ganz sensible Stelle erwischt.«

Ich fuhr rechts ran. »Steigen Sie aus. Das Taxi, das Sie nach Landshut zurückbringt, geht auf meine Rechnung.«

»He!« Er sah richtig erschrocken aus. »Sie können mich nicht mitten in der Botanik aussetzen!«

»Doch. Kann ich. Habe ich schon öfter gemacht. Sparen Sie sich Fragen nach Details.«

»Sie sind ja verrückt.«

Wir maßen uns mit Blicken. Ich gewann. Bisweilen kamen ungeahnte Kräfte in mir hoch.

»Wir fahren gemeinsam nach Niederaichbach und suchen das Forsthaus, von dem Linda erzählt hat«, bestimmte ich. »Wir sehen uns um, ob wir auf etwas stoßen, das Julika vielleicht wichtig gewesen ist. Das ist unser Dienstauftrag. Witzchen, Erotika und so weiter sind nicht eingeschlossen.«

Kreuzkamp schmollte, bis wir nach Niederaichbach kamen. Wir kurvten ein wenig herum und fragten schließlich eine Frau, die auf High Heels den Gehweg entlangstöckelte, nach dem ominösen Forsthaus.

»Fahren Sie an der Kreuzung Richtung Landshut«, schlug sie vor. »Wenn Sie das Kernkraftwerk sehen, geht’s links in den Wald. Wollen Sie das Haus kaufen? Zeit würde es. Es verfällt immer mehr. Schöne Ecke da unten, für eine Familie wie geschaffen.«

»Danke bestens«, sagte ich und gab Gas. Kreuzkamps Schmunzeln ging mir durch Mark und Bein.

»Das muss es sein«, sagte er wenige Minuten später. Rechts glitzerte die Isar in der Sonne, und das Atomkraftwerk am anderen Ufer steuerte zu dem ganzen Panorama etwas Morbides bei.

»Hier?«

Auf der linken Seite der Straße erstreckte sich ein dicht bewaldeter Hügel. Tief in die Schatten geduckt lag ein altes Haus, verfallen, mit herabhängenden Fensterläden, einem an einigen Stellen eingebrochenen Dach und der Aura eines Spukschlosses.

»Hier könnte man eine bayerische Version von ›High Noon‹ drehen«, murmelte ich. »Gruseliger geht’s nicht.«

Hupend überholte uns ein Wagen aus dem Dorf.

»Biegen Sie endlich ab. Die Zufahrt sieht ja halbwegs ordentlich aus«, schlug Kreuzkamp vor.

Ich lenkte meinen Alfa vorsichtig über eine schmale Brücke aus hölzernen Bohlen, die einen Graben überdeckten. Im schlammigen Boden vor dem Haus fanden sich eine Menge Reifenabdrücke.

»Hier ist was los«, sagte ich. »Kommen Sie, bevor die Schauerhütte zusammenbricht, wenn man etwas zu heftig ausatmet …«

Wir stiegen aus. Ich meinte, irgendwo eine Mundharmonika zu hören. Sah zu viele Filme. Der Nervenkitzel für meine Einsamkeit in meiner Klause.

Die Haustür war abgeschlossen.

»Ein neues Schloss«, sagte Kreuzkamp halblaut. »Schauen Sie sich das an. An dieser Bruchbude!«

»Soll alles vorkommen«, antwortete ich. In meinem Kopf begannen sich die Räder zu drehen. »Was jetzt?«

Wir sahen einander an. In Kreuzkamps Mundwinkeln kräuselte sich ein Lächeln. In stillem Einvernehmen gingen wir um das Haus herum.

»Im Film hätten wir längst unsere Colts gezogen«, murmelte er. Die Fensterläden auf der Rückseite des Hauses, die auf einen dicht bewaldeten Hang ging, waren hergerichtet und verschlossen.

Probeweise rüttelte ich an einem. »Dicht wie eine U-Boot-Luke.«

Kreuzkamp ging ein paar Schritte auf den Hang zu und sah zurück. »Im ersten Stock sieht es weniger hermetisch aus. Wollen wir es da probieren?«

Ich trug Sneakers und eine Jeans, dazu ein leichtes Leinen-Top. Allerdings wog ich um einiges mehr als Kreuzkamp. Ich hatte keine Lust, vor ihm den nassen Sack zu geben, der nicht einen einzigen Klimmzug schaffte. Aber der spröde Ostwestfale schien sich in diesem Augenblick schon mit der konkreten Durchführung seiner Turnübung befasst zu haben. Ehe ich es mich versah, glitt er an einer marode aussehenden Dachrinne hinauf.

»Waren Sie in Ihrem früheren Leben Fassadenkletterer?«, rief ich.

Er hockte auf einem Fenstersims im ersten Stock und machte sich am Fenster zu schaffen. Mit einem trockenen Knack ließ es sich öffnen. »Bis gleich, Frau Laverde.« Er kroch ins Haus.

Ich fröstelte. Es lag nicht nur an der feuchten Kühle des Waldes und dem langen Schatten, den der Hang warf. Mir gefiel dieser Ort nicht. Am Atomkraftwerk, dessen Dampfschwaden senkrecht in den Himmel stiegen, konnte es nicht liegen. Ich war der Auffassung, dass nicht nur Menschen, sondern auch Orte ein Gedächtnis besaßen, das Gefühle, Ereignisse und Absichten jener Menschen spiegelte, die sich dort aufgehalten hatten. Dieses alte Forsthaus strahlte etwas Bösartiges aus. Als hätten hier nur kleinliche, rücksichtslose Menschen in geistiger Enge gelebt.

»Frau Laverde?«, kam Kreuzkamps Stimme von oben. Ich sah zu dem Fenster hinauf, durch das er ins Haus eingedrungen war. »Sorry, aber unten ist alles verrammelt. Kommen Sie rauf. Ich helfe Ihnen.«

Misstrauisch musterte ich das wacklige Rohr, an dem Kreuzkamp sich wie ein Äffchen hinaufgehangelt hatte.

»In Sport hatte ich eine Vier.«

»Wer interessiert sich schon für Schulnoten!«

Die Tasche quer über die Schulter geschlungen, umklammerte ich halbherzig das kühle Metall. Der Anfang ging leicht. Ich konnte mich am unteren Fensterbrett abstützen. Dann suchten meine Füße Halt an den Dübeln in der Wand, die eigentlich die Dachrinne halten sollten. Ich spürte, wie sie unter meinen Schuhen nachgaben. Meine linke Hand erreichte das Sims, auf dem Kreuzkamp hockte und mir die Hand entgegenstreckte.

»Bravissimo. Sie haben’s gleich!«

Er zog mich zu sich hinüber und gemeinsam kippten wir durch das geöffnete Fenster ins Haus hinein. Wie ein Sack Müll. Irgendwas schepperte.

»Nur das Fenstersims«, sagte Kreuzkamp cool. »Es ist runtergefallen. Kein Wunder, alles recht abgewrackt hier.«

»Abgewrackt ist gar kein Ausdruck«, erwiderte ich.

Was mochte Julika hier gesucht haben? Der Raum, in dem wir uns befanden, bestand nur aus stinkendem Parkett voller Löcher, Tapeten, die von den Wänden hingen, und Mäusedreck.

»Schauen wir uns um!« Ich ging voran. Keinesfalls bekäme Kreuzkamp Gelegenheit, den Scout zu spielen, der die Dame durch den Dschungel geleitete.

»Ein großes Haus. Vier Zimmer sind hier oben. Alle leer. Wollen wir versuchen, auf den Dachboden zu kommen?«, schlug er vor. »Unten geht’s nicht weiter.«

Die schmale Treppe, die zur Dachbodenluke führte, erinnerte mich an eine Hühnerleiter.

»Überall Vogelkacke«, sagte ich. Das Haus kam mir von Minute zu Minute widerwärtiger vor. Aber ich war Irmas Ghost. Ich wollte herausfinden, was Julika in diese erbärmliche Behausung getrieben hatte. »Kaum vorstellbar, dass Irma mal mit einem kleinen Kind hier gewohnt hat.«

»Wenn ein Haus erst mal leer steht, kommt der Verfall schneller als gedacht.« Kreuzkamp turnte über die Stiege und rüttelte an der Luke, die von einem ebenfalls neu aussehenden Vorhängeschloss gesichert wurde.

»Tut sich was?«

»Sie ist abgeschlossen, aber kein Problem. Ich brauche nur etwas, womit ich sie aufstemmen kann.« Er ging zurück in eines der Zimmer. Irgendwie musste ich ihn bewundern. Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze. Nutzte vermutlich diese unerwartete Chance, mir seine Vorzüge vor bester Kulisse zu zeigen. Aber halt: In ›High Noon‹ hatte Gary Cooper die Hauptrolle gehabt. Ich lugte vorsichtig die breite Treppe ins Erdgeschoss hinunter.

»Was ist eigentlich dort unten?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Alles verrammelt«, hörte ich Kreuzkamps Stimme. Dann folgte ein Splittern. Er kam mit einem Fenstersims unter dem Arm auf mich zu. Der Scheitel war nicht mehr ganz so exakt wie sonst. Unter seinen Achseln breiteten sich Schweißflecken auf dem T-Shirt aus. »Vielleicht haben die Eigentümer angefangen zu renovieren.«

»Wissen Sie, wem das Haus gehört?« Ich sah zu, wie er die Treppe hinaufturnte und das Fensterbrett wie ein Stemmeisen in die Fuge der Dachbodenluke drückte.

»Nö. Aber ich kann mich erkundigen. Ich kenne jemanden beim Katasteramt.«

Ich verdrehte die Augen. Irgendwo flatterte ein Vogel. Seit Monaten, wenn nicht Jahren mussten gefiederte Zweifüßler in diesem Haus ihre Nachkommenschar großgezogen haben. Keine schlechte Zuflucht, dachte ich. Ein lautes Krachen riss mich aus meinen Gedanken.

»Kommen Sie!«, rief Kreuzkamp, und ich machte, dass ich hinterherkam.

Der Dachboden war riesig, belegte ungeteilt den gesamten Grundriss des Gebäudes. In der Mitte, der einzigen Stelle, wo man aufrecht stehen konnte, waren Schränke aufgereiht.

»Da hat einer seine Möbel entsorgt«, lachte Kreuzkamp. »Landhausstil, Büroschränke, billige Baumarktmöbel. Alles dabei.«

»Wie ist Julika hier hereingekommen? Wenn sie hier war?«, fragte ich.

»So wie wir.«

»Aber sie hat hier nichts aufgebrochen, oder?«

»Sie könnte das Vorhängeschloss angebracht haben.«

»Wozu?«

»Um etwas zu schützen?«

»Aber was«, flüsterte ich. Wieder flatterte etwas. Unwillkürlich drehte ich mich um.

»Das sind nur Vögel«, beruhigte Kreuzkamp. »Die Löcher im Dach sind die idealen Einflugschneisen.«

»Einen Kampfjet habe ich auch nicht erwartet.«

»Himmel, sind Sie immer so dünnhäutig?«

Ich öffnete den ersten Schrank. Ein bunt bemaltes, wurmstichiges Eichenmöbel, welches Hobbybastlern vermutlich einen Schauder der Begeisterung über das Rückgrat getrieben hätte.

»Leer«, sagte ich.

»Schauen Sie!« Kreuzkamp stand vor einem anderen Schrank. »Vom Stil her auch nicht besser, aber hier sind lauter Kästen drin.«

Ich schob ihn beiseite. Mindestens zehn Metallboxen waren übereinandergestapelt. Jede einzelne abgeschlossen.

»Verflucht!«, rief ich.

»Kennen Sie den alten Spruch?« Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und begann, an einem der Kästen zu hantieren.

Wütend stellte ich meine Tasche ab. »Ich höre.«

»Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern. Von Samuel Beckett.«

»Passt hier aber nicht, oder?«, sagte ich leise, denn Kreuzkamp hatte das Schloss bereits geknackt. »Sie machen mir Angst. Waren Sie mal als Einbrecher eine große Nummer?«

In dem Kasten lag nur ein einziger Gegenstand. Eine Kladde mit schwarzem Umschlag und einem kleinen Schloss, das am seidenen Faden hing. Ich hatte auch massenweise Tagebücher dieser Art vollgeschrieben.

»›Lisas Tagebuch‹«, zitierte Kreuzkamp. »Steht hier. Auf der ersten Seite.«

»Lisas?«

Wir sahen einander an. Die Geräusche in dem alten Haus drangen laut an mein Ohr. Wieder flatterte irgendwo ein Vogel. Ich zog den Kopf ein.

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