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»Hinter Phishing verbirgt sich in der Regel keine Sippe aus Hackern«, erklärte Nero. Vor ihm saß Yoo Lim auf dem Tisch im Konferenzraum, einen Laptop auf den Knien, und hämmerte mit Verve auf die Tastatur ein. Leitner raufte sein Drahthaar und lechzte sichtlich nach einer Zigarette. Draußen sank die Dunkelheit über Landshut herab.
»Wer steckt dann dahinter?«, fragte Leitner müde.
»Hacker handeln meistens aus sportlichem oder technischem Ehrgeiz«, schaltete Yoo Lim sich ein. »Sie wollen sich selbst und den Kumpels aus ihrem Metier beweisen, wozu sie fähig sind. Sie haben Spaß daran, die Firewalls von Banken und Versicherungen zu untergraben.«
»Phishing hingegen geht auf das Konto der organisierten Kriminalität«, sagte Nero. Er hatte die Software, die bei Julika Cohen gefunden worden war, endlich zuordnen können. »Das Programm besorgt sich die E-Mail-Adressen von Bankkunden, verschickt Mails und fordert die Kunden auf, einen in der Mail angegebenen Link anzuklicken, der angeblich zur Internetseite der Bank führt. Dort sollen die Nutzer Passwörter oder persönliche Daten in entsprechende Felder eingeben.«
»Wer ist so blöd, dass er das macht?« Leitner begann in aberwitziger Geschwindigkeit, Zigaretten zu drehen.
Nero überlegte, ob ihn das Rauchen selbst oder der stundenweise Entzug umbringen würde. »Den Kunden wird mitgeteilt, es ginge um einen Datenabgleich, oder um eine Datenabfrage aus Sicherheitsgründen«, erwiderte er.
»Außerdem sehen die gefakten
Internetseiten den
echten Websites der Banken verblüffend ähnlich«, fuhr Yoo Lim
dazwischen.
Ihre smarten Einwürfe gingen Nero allmählich auf den Geist. Er war ausgelaugt und wollte nach Hause. Ihm graute vor der einstündigen Autofahrt, und es tat ihm leid, dass er Kea so kühl abgefertigt hatte.
»Es gibt eine Variante, bei der die echten Internetseiten aufgerufen werden«, verkündete Yoo Lim und leckte sich die Lippen. »Dann knallt plötzlich ein Pop-up-Fenster hoch und fordert zur Eingabe der Daten auf. Im Hintergrund sieht der Kunde die vertraute Seite. Also denkt er sich nichts dabei und tippt brav sein Passwort ein.«
Setzen, Eins, dachte Nero gereizt.
»Was genau bezwecken die Täter?« Leitner legte ächzend die zehnte Kippe neben Yoo Lims Knie ab.
»Sensible Daten abfangen und für Betrügereien missbrauchen. Wir müssen eine Presseerklärung rausgeben.« Yoo Lim klappte ihren Laptop zu und sprang vom Tisch. »Und nun?«
Leitner sah Nero an, als könne der die Antwort ausspucken wie eine Supermarktkasse den Bon.
»Die Leute, die Phishing-Programme schreiben, hinterlassen keine digitale Unterschrift in ihrer Software«, gab Nero zu bedenken. »Hacker tun dies manchmal, wenn sie tatsächlich aus Sportsgeist Trash zusammenbasteln oder in einen Wettbewerb mit anderen Hackern treten.«
»Aber Sie haben in Ihrer Abteilung doch Listen mit Hinweisen auf Gruppierungen?«, fragte Leitner.
»Die haben wir, aber so einfach ist es nicht, eine bestimmte Gruppe ins Visier zu nehmen. Sehen Sie, eine Gruppe, die die Arglosigkeit von Bankkunden ausnutzt, stellt sich nicht hin und hinterlässt eine Duftmarke. Das sind Leute, die im Dunkeln bleiben, unsichtbare Geister mit Rechnern und Accounts im Ausland oder auf Offshore-Servern. Sie stricken ihre Programme, stellen sie auf Rechner vor der britischen Küste, zahlen die Gebühr, und die Maschinen laufen Tag und Nacht. Je nachdem, wie professionell gearbeitet wird und wie viel Gewinn eine Gruppe anstrebt, grasen die Programme permanent das Internet auf der Suche nach Versuchskaninchen ab. Die betrügerischen Mails werden abgefeuert wie Maschinengewehrsalven. Immer drauf auf das Ziel! Ein Internetnutzer, der sein gesundes Misstrauen auf Eis legt, wird in diesem Bombardement schnell getroffen.«
»Aber selbst kontinuierlicher Argwohn schützt nicht«, erklärte Yoo Lim naseweis. »Denn die Betrüger treten ja im Namen bekannter Unternehmen auf. Wer nicht genau hinschaut und in Hektik seine Mails abarbeitet, hat einen Link schnell angeklickt.«
Leitner stöhnte. »Kann man nichts machen? Ist es das, was ihr mir sagen wollt?«
»Große Firmen programmieren digitale Abfangnetze, um Phishing-Mails so schnell wie möglich aufzuspüren.« Nero fuhr sich durch den Bart. Er schwitzte, obwohl von draußen kühle Luft hereinströmte. Er sehnte sich nach einer Dusche und nach Kea. Nach Kea und einer Dusche. Genau in dieser Reihenfolge. »Wir arbeiten dran. Ich sehe morgen im Büro vorbei und spreche mit meinem Kollegen.«
»Ich frage mich, warum Julika diese CD bei sich hatte.« Leitner steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Yoo Lim lächelte Nero verschwörerisch zu. Er musste zurücklächeln. In diesem Team wurde das Rauchverbot ohne viel Tamtam übergangen. »Der Neugruber Herbert hat ausgesagt, sie hätte ihn an dem Tag getroffen, aber nur wenig Zeit gehabt. Sie musste zu einer Probe.«
Yoo Lim tänzelte zum Fenster und sah hinaus. Sie erinnerte Nero an ein Fohlen. Unverbraucht, verspielt, kindlich.
»Meiner Ansicht nach«, sagte Nero, »müssen Sie diesen Neugruber mit dem Nacktscanner durchleuchten. Oder die Antwort auf alle Fragen ist ganz einfach. Neugruber hat Julika Cohen umgebracht und es war nichts als eine schnöde Beziehungstat. Vielleicht hat sie mit ihm Schluss gemacht.«
»Der Neugruber hat ein Alibi. Was zappelst du denn rum, Schlitzauge?«
Yoo Lim streckte ihrem Vorgesetzten die Zunge raus und hob keck den Zeigefinger. »Obacht, Chef, sonst wird eine Anzeige wegen rassistischer Äußerungen draus.«
Leitner lachte und hielt ihr eine seiner frisch gedrehten Kippen hin. »Der Friede sei mit dir. Magst eine?«
Yoo Lim ließ sich die Zigarette anzünden.
»Und Sie, Kollege aus der Landeshauptstadt?«
Nero grinste und griff nach einem Glimmstängel. Er versuchte, seinen Zigarettenkonsum auf ein ungefährliches Maß herunterzuschrauben und rauchte nur abends, zum Bier, oder zum Sex. Mit Kea im Bett. Kea, verdammt. Er fluchte innerlich. Wusste sich nicht anders zu helfen. Bei ihm zu Hause nannte man den Zustand, in dem er und Kea sich nicht mehr zurechtfanden, ›eine stille Mess‹. Es gab viel zu sagen, aber keiner machte den Anfang.
»Also, Alibi«, erwiderte Leitner, dessen Gesichtsfarbe mit dem Schub Nikotin wieder rosiger wurde. »Den Neugruber haben mehr als zehn Leute gesehen. Seine Clique bezeugt, dass er zum Zeitpunkt der Tat auf dem Turnierplatz rumhing und Bier trank. Die Burschen haben beim Aufbauen geholfen und sich danach ordentlich die Kante gegeben. Er war zu besoffen, um sich auf den Weg zu amourösen Abenteuern zu machen.«
Nero seufzte. Ihm wäre eine Beziehungstat lieber gewesen. Es graute ihm vor dem Suchen nach der Stecknadel im Heuhaufen. In seiner Branche fühlte er sich bereits erfolgreich, wenn er ein Wespennest auf dem Reißbrett einzeichnen konnte, auch wenn es kaum möglich war, es auszuheben. Die Cyberkriminellen waren zu gerissen, nutzten ungenügende Gesetzgebungen oder die Langsamkeit und Bestechlichkeit der Jurisdiktion in anderen Ländern. Phishing war ein weltweites Problem. Die Landshuter Kollegen würden den Mord vielleicht klären. Könnten einen Mörder dingfest machen. Aber eine Verbindung zu einem Phishing-Ring nachzuweisen, würde nicht gelingen. »Wir hören voneinander«, sagte er. »Rufen Sie mich an, wenn Sie was haben.« Er suchte nach einem Aschenbecher.
Yoo Lim zog eine Schublade auf und hielt ihm eine Untertasse hin. Er drückte seine Kippe aus. Dabei streifte Yoo Lims Hand wie zufällig seine Finger.
Schlange, dachte er, als er aus dem Büro ging und fast fluchtartig die Polizeidirektion verließ.