25
An der nächstbesten roten Ampel rief ich Nero an. »Treffen wir uns heute Abend noch?«
»Tut mir leid. Du kennst das. Wir arbeiten an der Mordaufklärung. Morgen kommt im Radio und in den Zeitungen ein Aufruf an potenzielle Zeugen, sich bei den Behörden zu melden. Dann geht das Chaos erst richtig los.«
»Hängst du also nach wie vor in den Ermittlungen drin?«
»Ich bearbeite nur die Computersachen.«
»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich.
Seine Stimme klang ungewohnt kühl. Er war gestresst. Aber nicht nur. Ich kannte ihn gut genug. Wurde er mit dem Gefühl drohenden Chaos’ konfrontiert, geriet sein inneres Gleichgewicht ins Wanken. Nero war ein empfindsamer Mensch, den auch scheinbar harmlose Bemerkungen tief verletzen konnten.
»Es ist viel zu tun.«
»Na gut«, erwiderte ich. »Ich fahre nach Hause. Ruf mich an, wenn du magst.«
Er legte ohne Gruß auf. Allerdings war ich in Gedanken zu beschäftigt, um mir Sorgen zu machen. Die Unterschwelligkeiten in einer Beziehung, die Schuldzuweisungen und prekären Rollenspiele, hatte ich jahrelang vermeiden wollen. Deswegen hatte ich mir lieber ab und zu einen Mann mit nach Hause genommen, um der Erotik nicht zu entsagen, aber die Verpflichtungen und Zwänge hinter mir zu lassen. Natürlich war mir klar, dass auch mit einem sanftmütigen Menschen wie Nero irgendwann der Moment kommen würde, da ich an der Komplexität der menschlichen Seele verzweifeln würde. Ich neigte dazu, meiner Gefühlswelt freien Lauf zu lassen. So wurden Pflöcke rechtzeitig eingeschlagen. Nero war der umgekehrte Fall. Er unterdrückte seine Empfindungen so lange, bis er als menschlicher Dampfkochtopf dermaßen unter Druck stand, dass er barst und mit seinem unerwarteten Gefühlsausbruch die Welt verschreckte.
Ich fuhr über die Autobahn nach Hause. Als ich Ohlkirchen durchquerte, musste ich an Juliane denken. Sie wohnte in der Ortsmitte in einer kleinen Wohnung. Ich hatte seit Tagen nichts von ihr gehört. Ich sollte sie dringend anrufen.
Meine Grauen schnatterten fröhlich, kaum dass ich auf mein Grundstück einbog. Ich streute ihnen frisches Futter hin, mehr aus dem schlechten Gewissen heraus wegen meiner häufigen Abwesenheit als aus Notwendigkeit, denn die Weide ernährte die beiden Prachtexemplare wie ein Füllhorn.
Eifrig widmete ich mich Irmas Karton. Ich fand eine Menge undatierter Fotos, quadratische Winzlinge mit weißen, gezackten Rändern. Zuerst trennte ich die beschrifteten von den unbeschrifteten Aufnahmen. Bald hatte ich einen kleinen Stapel von gut zwei Dutzend Bildern, auf deren Rückseiten in stets der gleichen strengen Handschrift Namen geschrieben waren. Die meisten zeigten Irma als junges Mädchen. Eine kleine, energische Person mit dunklem Haar und durchtriebenem Blick, der die Kamera nicht scheute. Auf einem anderen Foto stand Irma, in den Zwanzigern, mit einem Baby im Arm vor einer Haustür. ›Elisabeth und Irma‹ stand da. Dann gab es noch ein Foto, auf dem Irma als Teenager verwegen grinsend neben einem etwa gleichaltrigen Mädchen zu sehen war, das Irma selbst beinahe um Haupteslänge überragte. Ich hielt die Aufnahme ins Licht. Das andere Mädchen war eine von jenen zarten Schönheiten, die zerbrechlicher wirkten als Kristall. Ein schmales Gesicht, nach hinten gekämmtes, von einem Tuch gehaltenes, langes, rötlich-blondes Haar. Ein schüchterner und ebenso verführerischer Blick. ›Lisa und Irma‹ entzifferte ich die Notiz. Das also war Lisa. Kein Nachname. Ich durchwühlte die aussortierten Fotos nach Lisas Konterfei und wurde fündig. Es gab einige Bilder von ihr, meist zusammen mit Irma, auch einmal mit einer Frau, die Irma sehr ähnlich sah. Dann Lisa mit einem jüngeren Mädchen, und schließlich Irma, Lisa und ein Junge, kaum älter als die beiden.
Ich brühte Kaffee auf und überlegte. Es gab eine Menge Schwierigkeiten in meiner Branche. Zeitmangel, unzufriedene Kunden, die alle paar Stunden die Gliederung umwarfen oder seitenlange Passagen neu formuliert haben wollten. Aber in diesem Fall war ich wirklich unsicher, ob ich den Auftrag weiterbearbeiten sollte. Irma Schwand wollte ein Buch. Es ging mich nichts an, ob die Geschichte, deren Anfang sie mir in die Feder diktiert hatte, sich tatsächlich so zugetragen hatte oder ob sie ein Produkt von Irmas Fantasie war. Oder eine Mixtur aus verschwommenen Erinnerungen, Wunschdenken und Realität. Ich konnte nicht dingfest machen, was mich so irritierte.
Mitten in meine Grübeleien klingelte das Telefon.
»Laverde?«
»Herzchen, hier spricht deine Adoptivmutter.«
»Juliane, altes Haus!«
»Danke für die Anspielung.«
»Wie geht’s dir?«
»Wenn ich dir wirklich sage, wie es mir geht, wirst du mir nicht glauben.«
»Warum?«, fragte ich alarmiert.
»Dolly ist auf dem absteigenden Ast. Sie macht es nicht mehr lange.«
»Was ist denn passiert?«
»Du weißt doch. Seit letztem Sommer hat sie furchtbar abgebaut. Ihr Gedächtnis versagt alle paar Minuten. Naja, heute früh hat sie mich nicht mehr erkannt. Ich kam aus dem Gästezimmer und wollte mit ihr frühstücken, und sie sagte: ›Was machen Sie in meiner Wohnung?‹«
»Ach du Scheiße.«
»Mit Soße.«
Ich hatte von Dollys nicht gerade rosigem Gesundheitszustand gewusst, aber dass es so prekär war, erschütterte mich.
»Duplizität der Fälle«, sagte ich und berichtete von Irma.
»Sag bloß.« Juliane hörte sich niedergeschlagen an. »Ich kann Dolly auf keinen Fall allein lassen. Ich muss bei ihr bleiben, vielleicht sogar einen Platz im Altenheim für sie suchen. Obwohl sich das so anfühlt, als wollte ich sie im Knast abgeben. Aber sie kann unmöglich in ihrer Wohnung bleiben.«
»Das tut mir leid, Juliane. Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«
»Lieb von dir, mein Schnuckelchen. Ich melde mich.«
Sie legte auf, bevor ich auch nur Piep sagen konnte. Wenngleich Juliane nach außen abgeklärt wie ein Fremdenlegionär wirkte, hatte sie ziemlich nah am Wasser gebaut. Sie besaß ein großes Herz, in dem sie vielen einen Platz schenkte. Trotz der, wenn ich recht informiert war, drei Ehen in ihrem Leben war sie kinderlos geblieben. Allerdings war sie zu einer großzügigen Definition dessen fähig, wer ihre Kinder waren. In ihre Seele brannte ein warmes Feuer, und wer wollte, durfte sich daran wärmen. Ich ahnte, dass der Zustand ihrer Schwester sie aus der Bahn warf und nahm mir vor, sie morgen wieder anzurufen. Gerne hätte ich mit ihr über Neros unausgeglichenen Gemütszustand gesprochen.
Deprimiert trank ich meinen Kaffee. Vermisste Neros tröstende Gegenwart. Vielleicht hätte ich mir anstelle von zwei Graugänsen lieber einen Hund anschaffen sollen. Ein Haustier mit Streichelqualität. Draußen verdunkelte sich der Himmel. Dieser Sommer brachte mehr Wolken als bayerisches Weiß-Blau.
Nero. Und Cary Grant. Ich überlegte, ob ich den Abend im Piranha ausklingen lassen sollte. Früher war der Tanzclub mit den legendären Cocktails in Ohlkirchen meine Lieblingsanlaufstelle für einsame Stunden gewesen. Niemand würde in einem Dorf wie Ohlkirchen so eine Kneipe erwarten, aber das Piranha hatte sich einen Namen gemacht und lockte den Jetset aus den umliegenden Orten und sogar aus München an. Zuweilen hatte ich mich dort mit verlockender Manneskraft versorgt und einen Kerl mit heimgenommen. Für die Erotik, nicht für die inneren Werte. Einen, der mit dem eigenen Auto kam und am nächsten Morgen Fersengeld gab, ohne ein Frühstück serviert haben zu wollen. Cary Grant alias Magnus Kreuzkamp, der trübsinnige Lokalreporter, dem die ehrenvolle Aufgabe des Weltverbesserers noch nicht zugeflogen war: Er wäre ein Exemplar für eine Nacht gewesen. Für das kurze Vergnügen, das das Blut zum Kochen brachte, dann langsam abflaute und eine zarte Leere hinterließ. Seit ich mit Nero zusammen war, hatte ich keine Männer für eine Nacht mehr gesucht. Im Gegenteil, ich hatte zwei todsichere Anwärter abgewiesen, weil ich mir einbildete, Nero das schuldig zu sein. Ich trank meinen Kaffee aus. Wenn ich keinen Mann in greifbarer Nähe hatte, weil das einzige Exemplar, auf das ich mich eingeschossen hatte, in einer Mordermittlung feststeckte, und weil ich nicht wagte, diesem einen Exemplar untreu zu werden, wollte ich wenigstens mit mir selbst eine schöne halbe Stunde haben.